Schreibgewohnheiten, Friesenwetter

04. September 07

gegen 18 Uhr

Ein bekannter Schriftsteller wurde einmal gefragt, ob es bestimmte Rituale gäbe, die er einhält, ehe er mit dem Schreiben anfängt.

Der Schriftsteller: es gibt keine, außer dem, dass ich die Tastatur so nahe heranziehe, dass ich bequem tippen kann.

Das war vor über hundert Jahren, im Schreibmaschinenzeitalter.

Hat sich seitdem was geändert, was die Frage hinfällig macht?

Oder ist sie heute, in unseren Tagen der weblogs, vielleicht noch brisanter geworden? Denn: der öffentliche Auftritt steht unmittelbar bevor.

Wir streichen nicht mehr durch und füllen die Seiten stattdessen mit Leerstellen an.

Auch das wirkt.

Aber auch das wirkt sich aus:

wir löschen ganz einfach, nichts davon bleibt, kaum eine Erinnerungsspur.

Das gibt Mut gegenüber dem Bildschirm, Hauptsache, er bleibt und schließt sich und uns nicht zu.

Das leere Blatt vor dem Mund, den leeren Bildschirm vor Augen, das hält keiner aus.

Zu den Ritualen zurück: der zitierte Schriftsteller hat seine Rituale mit Bestimmtheit verleugnet oder nicht wirklich durchschaut. Die Dinge, die dem Schreiben vorausgehen, die es hemmen können oder befördern, schlagen sich in Erfahrungen nieder, aus denen dann Rituale erwachsen, aufgebaut und ausgebaut werden. Sie gehören in den Umkreis täglicher Magie, zu den Formeln und Formen gewohnheitsmäßig gewordener, nahezu automatisch erfolgender Beschwörung. Denn was wären die Schreiber, Urheber von Texten, Autoren innerer und äußerer, mehr oder weniger suggestiver und fesselnder Szenen, kämen bei ihnen nicht Charme und Zauber zur Geltung? Sie müssen es anerkennen, das Imaginäre, damit es sich mitteilt.

Die Durchführung bestimmter, meist durchaus persönlicher Rituale führt dazu, dass sich der Sumpf, den das Imaginäre bildet, gleichsam lichtet und daraus ein soufflierendes Prinzip aufsteigt, Gestalt annimmt und eingibt.

Die Muse, die Sirene, die Sphinx – um nur einige dieser Personifikationen imaginären Sprechens oder Soufflierens zu nennen – gehören hier her.

Homer hatte vor fast dreitausend Jahren sein Ritual der Anrufung, mit dem er die Odyssee beginnen lässt, ennepe mousa moi andra.

Der bekannte Schriftsteller aus dem vorigen Jahrhundert hatte ganz gewiss auch eines, aber er lebte und schrieb eben im Maschinenzeitalter.

Das hat ihn die eigenen Zaubersprüche und magischen Verrichtungen, die dem Eintippen des Textes vorgeschaltet waren, vergessen oder verdrängen lassen.

Schreibgewohnheiten und rituelle Praktiken, die dem Schreiben vorausgehen:

ein kleines Schreibbuch, rot und schwarz und fest gebunden, innen kariert, dazu ein Kugelschreiber, die beide in jede Hosentasche gehen. Eine Hose gibt es, aus deren Tasche der Kugelschreiber immer wieder herausrutscht. Für diese Hose gibt es einen Schreiber, nicht länger als ein Daumen.

In dieses Buch werden alle merkwürdigen und rätselhaften Gelegenheiten notiert, unterwegs, in der Warteschlange, beim Mittagsschlaf auf der Wiese.

Das liefert die ersten Anstöße beim Schreiben. Denn es gibt immer wieder diese Situationen, wo einem mitten im besten Gedankenfluss  das Gedächtnis verlässt. Was war das bloß noch? Dann hilft weiter, zurückgehen zu können auf mögliche Quellen, auf gestreifte Fundorte.

Manchmal nur notdürftig angemerkt. Manchmal unleserlich. Das kommt vor und macht möglich, zu entwickeln, was bei wörtlicher Lesung unter doppeltem Boden versteckt, als eingeschmuggelte Botschaft, niemals hätte stattfinden können.

Andere Einfälle sind so verkappt, dass sie erst einmal anders gelesen werden, rückwärts oder ganz andere Worte, ganz andere Lesarten beschwörend. ***

(Hier wird abgebrochen und vielleicht später fortgeführt).

Dieses *** wird eingeführt, um Abbrechen zu bedeuten.

gegen 19 Uhr

# bedeutet: hier kommt später noch ein Bild hin.

Das Bild ist im Augenblick noch unbekannt. Es gibt vage Vorstellungen davon, gleichsam in die Zukunft geworfene Schatten. Die werfen dann irgendwas auf, einen Berg, eine Bergkette, eine Art Strand, Ufer oder Umriss. Das ist erst einmal genug. Das führt dann zum Bild, niemals glatt und auf kürzestem Weg, sondern immer gewunden. Denk daran: auch der Darm ist gewunden, im Schlund finden ganz andere Vorgänge statt als im Dick- oder Enddarm, vergleichbar und unvergleichlich zugleich. Das ist alles unumwunden und gewunden zugleich.

Zur Aufhellung eine kleine Anekdote. Sie hat die Überschrift Friesenwetter in Niedersachsen.

Hier der Text:

Bruttoregistertonnen am Himmel, Superfrachter kieloben kielunten

ziehen ziehen langsam dahin

unmerklich schmilzt zwischen ihnen das Blau

wie Wolken sehen sie aus.

In ihnen schippert und scheppert der Wind von einem zum andren Horizont,

immer dem Wind hinterher.

Schlepper, Tanker, Frachter aller Ausmaße, nach Bruttoregistertonnen gerechnet.

Man wundert sich, wie sie es über den Horizont schaffen, wo es doch nirgends dort Schleusen oder vergleichbares gibt.

Schippernde Lotsen, undichte Tanker, lecke Gestirne…

Von allen Seiten trieft es auf einmal vom Himmel herab.

Auf der Erde, plattestes Flachland, sieht man gelbe Punkte ausschwirren und

ihre Wege einschlagen zwischen Deichen und Knicks.

Winzige Wesen in leuchtgelbem Nerz.

Mit hüfthohen Schaftstiefeln stapfen sie,

sie stapfen durch Siele und Ried, Maisfeld und viehzaunumhegtes Gelände.

Sie schwärmen dahin und wir schauen zu, auf bequeme Registertonnen gesetzt,

Südwester im Norden, Essig und Ölzeug im Süden und doch schnell bei der Hand, um über holprige Strecken zu murren.

 

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