Kolportage und Kunst

Kolportagen ist der Titel einer Reihe aktueller Arbeiten des Verfasser, die sich gleichsam gerüchteweise mit Wirklichkeiten beschäftigen. Man könnte auch sagen: die mit Realitäten umgehen, als wären es Gerüchte. Sie gaben den Anstoß zu den nachfolgenden Überlegungen.

In der Berichterstattung, mit der wir es zu tun haben und die uns immer wieder zu schaffen macht, bedeutet „Kolportage“ eine Gemengelage aus Dokumentation und Falschmeldung. Authentisches Material wird mit frei erfundenen Angaben geklittert, ein triviales Ereignis aufgebläht, oft im Hinblick auf ein sensationslüsternes Publikum. In der bösartigen Kolportage gibt es mitunter auch eine Neigung zu Verleumdung, Herabsetzung, Diskrimination.

Auch in der Kunst, die wir machen und die uns umgibt, meint Kolportage die Mitteilung von Unglaubhaftem, Ungesichertem, von schönem oder auch aufgesetztem Schein. Die Präsentation gestaltet sich so, dass wir dem Kolportierten mitunter fasziniert und gespannt unsere Aufmerksamkeit leihen.

Es sind viele und unterschiedliche Quelle, die in einer Kolportage zusammenfließen. Ihr Reiz besteht anteilig darin, dass wir beim Empfang die Herkünfte gar nicht mehr auseinanderhalten können und wollen.

Kolportieren bezieht sich auf ein Weitergeben, Weiterreichen, Weitererzählen von mehr oder weniger beglaubigten Sachverhalten, mehr oder weniger wahrscheinlichen Tatbeständen. Eine Wirklichkeit wird angenommen, angenommen in der doppelten und zwiespältigen Bedeutung dieses Wortes, wird angenommen und umgewandelt. Dabei gehen Transformation und Deformation fließend ineinander. Die ursprüngliche Nachricht wird geknetet, traktiert, umgepackt, angereichert nach dem bekannten Prinzip der „stillen Post“. So kommt sie dann bei uns an, nie wirklich fertig, bei dem einen anders als bei der anderen, dabei stets unstet und unterwegs, als würde sie getrieben, die Kolportage, als wäre sie auf der Suche nach einem endgültigen eigenen Sinn. Aber das kann nicht sein. Das wird nie sein, weil sie sich niemals völlig ablösen kann von dem dubiosen Ursprung aus Wahrheit und Irrtum, aus Täuschung und Wahrnehmung. „Real“ und „irreal“ gehen in der Kolportage so zusammen, dass sie auch bei sorgfältiger Analyse nicht voneinander gesondert werden können.

Dem umgangssprachlichen Verständnis nach bedeutet kolportieren das Verbreiten vorwiegend ungesicherter Nachrichten und Gerüchte.[i] Aber es sind ursprünglich nicht die Klatschmäuler, Kaffeekränzchen oder Stammtische, wo das Geschäft des Kolportierens betrieben wurde. Es war überwiegend an die Tätigkeit der Hausierer geknüpft, die von Haus zu Haus, von Geschäft zu Geschäft zogen, um ihre Ware loszuschlagen, die sie in großen Kästen, als Bauchladen oder in der Art einer Kiepe auf den Rücken geschnallt hatten. Was sie in ihrem Gepäck hatten, war allerdings weder Garn, Knöpfe, Küchengeräte noch Zündhölzer, sondern Druckware, Fortsetzungsromane, Kalender, Illustriertes. Überall, insbesondere in stadtfernen und entlegenen Regionen, im Gebirge und auf dem platten Lande hatten sie für diese Artikel Abnehmer, einen mehr oder weniger festen Stamm von Abonnenten und Subskibenten. So zogen sie gleichsam periodisch, nämlich den Erscheinungsterminen und der Drucklegung ihrer Ware folgend, mit ihren Rückenläden und Bauchkästen von Ort zu Ort, von Haus zu Haus. Unterwegs nahmen sie auf, wovon die Leute gerade redeten, was im Gespräch war und die Gemüter beschäftigte, Alltägliches und Abstruses, Umstürze und Unwetterfolgen, Unfälle und wirtschaftliche Notlagen, frisch erfundene Flüche und alte fromme Sprüche. Sie entwickelten ein gutes Gedächtnis für all diese Vorkommnisse und eine Art narratives Geschick, diese Dinge im rechten Augenblick ins Kundengespräch einfließen zu lassen, beim Werben für einen abenteuerlichen Fortsetzungsroman oder für eine Erbauungsschrift, deren Inhalt gerade die Gemüter, etwa die Schwarmgeister und die Geistlichkeit, in unterschiedlicher Weise unterschiedlich erregte.

Sie – die Kolporteure – brachten ein subtiles Gespür mit für das, was die Bewohner in den Dörfern oder die Bauern auf weit abseits gelegenen Höfen zu hören neugierig waren, in welche Richtung ihre Wünsche nach Wissen, Erkenntnis oder Unterhaltung sich womöglich bahnen ließen. Sie kamen ja viel herum und wussten von ihren Kunden Neuigkeiten, die andernorts noch keine Verbreitung gefunden hatten. So konnten sie ihr Sonderwissen gegebenenfalls affirmativ, gegebenenfalls auch kritisch und subversiv bei ihrem Publikum einsetzen. Ihr Beitrag zur Bildung, zur Beförderung von Kritik und kritischer Haltung dürfte insgesamt beträchtlich gewesen sein, obgleich es sicherlich auch viele Kollegen in ihrem Gewerbe gab, die keinerlei eigene oder gar skeptische Meinungsbildung unterstützten, sondern auf dem breiten und ausgetretenen Weg herrschender und bestehender Meinung weiterlatschten und ihre Kundschaft in solcher Anpassung und Gleichförmigkeit bestärkten.

Kolporteure fielen in die Sparte von Hausierern und Handlungsreisenden, wobei die Spezifizität ihrer Ware natürlich von großer Bedeutung war. Sie mussten in dem, was sie an den Mann oder unter die Leute bringen wollten, zumindest äußerlich, quasi plakativ bewandert sein. Eine gewisse Belesenheit war unverzichtbar. Umgekehrt waren es in vielen Fällen wohl auch eine abgebrochene Grundbildung, eine starke Sehnsucht nach Weiterbildung, häufig eigene poetische, künstlerische oder literarische Ambitionen, die das Kolportagengewerbe für manche Personen anziehend erscheinen ließ. Der Eintritt in den ortsansässigen Sortimentsbuchhandel war ihnen durch mangelnde Qualifikation, aber auch subjektiv durch den Wunsch nach Selbstbestimmung oder durch eine rastlose Anlage verwehrt. So standen sie ihrer Existenzform nach, als ambulante Händler in Druckerzeugnissen, dem fahrenden Volk, den Landstreichern, notorischen Pilgern und eben Hausierern näher als etwa den bürgerlichen Ständen mit ihren Verlagen und Druckern, von denen sie ihre Ware erhielten. Aber auch ihre Kundschaft war eines anderen Schlages. Das waren ansässige, nicht unbedingt weltoffene und bildungshungrige, aber doch interessierte und neugierige Menschen, mit denen der Kolporteur sporadisch ins Gespräch kommen konnte, weil er aus einer fremden, fernen und vielleicht exotisch anmutenden Welt zu kommen schien.

Mit diesen Händlern und Verteilern einer meist preiswerten und kostengünstigen, vielleicht daher auch oft für minderwertig gehaltenen Literatur wanderten dann eben auch die on dits, die Kunde(n) von den neuesten Vorkommnissen, Katastrophen, Sensationen, wie wir sie heute in den Nachrichtenforen und Blogs des Internets finden. Und es ist zu vermuten, dass sich innerhalb der Zunft der Kolporteure spezifische Erzählstile und narrative Techniken entwickelten, die bei den einzelnen Vertretern zu unterschiedlicher Blüte gelangt sein dürften.

Leider gibt es keine Zeugnisse, die diese mündliche Erzählkultur heute noch bezeugen können. Ebenso entzieht sich heutiger Kenntnis, wie groß der Anteil der Lieferanten verdeckt zeitkritischer „Zeitungen“ war gegenüber den „Konformisten“, die im behäbigen Strom der Zeit,  im jeweiligen mainstream schwammen. Unter Zeitung ist ja ursprünglich mündliche, dann auch gedruckte Nachricht zu verstehen. Entscheidend war nicht nur, was erzählt wurde aus der bunten Fülle vorgefallener oder zugetragener Begebenheiten, sondern auch wie das ausgeschmückt, präsentiert und ausgelegt wurde. Die Kolporteure fungierten nicht nur als Berichterstatter, sondern auch als Ausleger, als Exegeten und Kommentatoren von Zeitgeschehen. Sie trugen, wenn auch in bescheidenem Maßstab und Umfang, zumVerständnis, zu den zunächst ganz persönlichen Sichtweisen und Auffassungen von Zeit-geschichte bei.

Wenn heute von Kolportage geredet wird, ist das also zu beziehen sowohl auf die Druckerzeugnisse, die von den Hausierern angeboten wurden, wie auch auf die faszinierenden Geschichten, die sie ins Kundengespräch einbrachten. Kein Jägerlatein, kein Seemannsgarn, sondern eben Kolportage. Deswegen umfasst Kolportage, im herabsetzenden Sinne, die Verbreitung von Schund wie die von dubiosen Gerüchten. Es gibt da also eine mündliche oder orale Tradition, eine Kunst des Verfassens, des Fassens in Worte und Bilder, die angelehnt ist an das Propagieren und Weitergeben schriftlicher oder bildartiger Erzeugnisse der unterschiedlichsten Niveaus.

Vielleicht noch eine Bemerkung zu dem sonderbaren l in Kolportage: es leitet sich aus dem altfranzösischen Ausdruck für Hals, bzw. Nacken her. Die Wendung porter a col ist zu übersetzen mit auf den Schultern / um den Hals / auf dem Nacken tragen.

Was so getragen wurde, meist an einem breiten Riemen oder mit zwei Ledergurten befestigt, war der Rückentragkorb oder der Bauchladen, der die gedruckte Ware enthielt. Mit dieser Vorrichtung konnten diese Dinge sowohl transportiert als auch einer interessierten Kundschaft feilgeboten oder präsentiert werden.

Bei den Stücken, die vonseiten des Autors dieser Zeilen als Kolportagen gezeigt werden, handelt es sich um Ansichten, Ausschnitte, Skizzen und Aufnahmen, die auf sehr unterschiedliche Weise entstanden und zusammengetragen worden sind. [ii] Also „Zusammengetragenes, zur weiteren Verbreitung bestimmt“. [iii]

Bei dem Gedruckten, mit dem es die fliegenden Händler zu tun hatten, die wir als die ersten Kolporteure entdeckt haben, kommt es zunächst auf das Verfassen, dann aber auch auf das Verbreiten oder Vertreiben an. Vermarktung ist  in der Kunst seit Jahrhunderten ein wichtiger Faktor. Er entscheidet nicht nur über Brot und Brotlosigkeit, sondern auch über die Geltung und Bedeutung eines Künstlers. Vermarktete Künstler nagen in der Regel nicht mehr am Hungertuch. Sie können sich Ateliers und Galerien leisten, über die sie dann immer größer herauskommen. Als Kunst-Kolporteur steht man in allerlei Hinsicht heute besser da als die Kolporteure in den vergangenen zwei oder drei Jahrhunderten. Man kann den Preis für einen Artikel nach eigenem Gutdünken festsetzen und ist nicht an solche Regeln oder Vorschriften gebunden, wie sie zum Beispiel im Deutschen Reich noch um 1900 galten:

„Die Anreizung der Kauflust des Publikums durch Gewähren von Prämien, die mit der abschließenden Lieferung des Werkes gratis an die urteilslose Masse geliefert werden sollten, wie Ringe, Uhren, Frauenkleider, Nähmaschinen u.s.w. ist im Deutschen Reich verboten.“[iv]

Inzwischen gibt es ja auch im Kunsthandel nicht nur Prämien, sondern auch Rabatte, Prozente, Schleuderpreise und dergleichen mehr, die in einem schwindelerregenden Kontrast stehen zu den astronomischen Preisen, die etwa bei Sotheby’s oder anderen Auktionshäusern für einen Picasso, Giacometti oder auch für Bildwerke eines noch lebenden, hoch im Kurs stehenden Künstler erzielt werden.

Heutzutage eliminiert ist auch eine andere Satzung, die noch um 1900 streng eingehalten werden musste: „Ausgeschlossen von der Kolportage sind ferner Druckerzeugnisse … oder Bildwerke, insofern sie in sittlicher oder religiöser Beziehung Ärgernis zu geben geeignet sind.“[v]

Es muss noch einmal zurückgekommen werden auf das zwielichtige, ja ungute Moment, das heute noch – oder erst recht – aus dem Begriff kolportieren herauszuhören ist.

Zunächst einmal hat das zu tun mit der anarchischen Form, in der sich dieses Gewerbe, als eine Sonderform des Hausierens, seit jeher befand. Der Kolporteur, meist ohne festen Wohnsitz, eine Art lebenslänglicher Handlungsreisender ohne fixierte Identität, vertrieb sein Angebot meistens „in der Wohnung des Käufers“[vi], also in halböffentlichen oder privaten Räumlichkeiten. Er hatte es, wie heute die Mehrzahl der freischaffenden brotlosen bildenden Künstler, mit Abnehmern zu tun, die sich aus Stammkundschaft, Laufkundschaft und Zufallsbekanntschaft ergab.

Das waren auch damals Leute aus allen Bevölkerungsschichten, Sammler, Abonnenten, kunstinteressierte oder kunstbegeisterte Laien, bei denen die erworbene Ware in der guten Stube hing oder lag, vielleicht bei Gelegenheit auch weiter verkauft, verschenkt oder verhandelt wurde.

Für den Kolportageartikel gilt, dass er, wie jedes Bild- oder Kunstwerk, einen nicht nur materiellen, sondern obendrein auch meist unschätzbaren ideellen Wert darstellt.

Es ist genau dieser fließende, großen Einschätzungsschwankungen unterworfene „Wert“, der nicht nur das kolportierende Gewerbe, sondern auch deren Betreiber ins Zwielicht setzt. Dieses zweifelhafte, ja geradezu a-professionelle oder professionalitätswidrige Moment findet seine Entsprechung in ziemlich willkürlichen Geschäftsüsancen. Was heute zwischen einem „vagierenden“  Künstler und einem seiner Kunden abläuft – so ähnlich dürfte es früher vorgegangen sein, etwa beim Kalenderkauf, zwischen Kunde und Kolporteur.

Der Warentausch wird begleitet, befördert und überlagert durch einen Austausch, in dem der materielle Aspekt des Gegenstandes, sei es Kalender oder Gemälde, zurücktritt. Das liegt  in der Sache selbst, die da getauscht wird. Zwar ist es meist ein Tausch von Kunst gegen Geld, aber alle Beteiligten sind sich stillschweigend darüber einig, dass das eigentlich Unschätzbare des Kunstwerkes, sein unsichtbarer Glanz, seine Aura, seine Seele, könnte man beinahe sagen, dabei hochachtungsvoll umgangen, da unfassbar unberücksichtigt bleibt. Dieser Aspekt des kolportagehaften Ver-handelns von Kunst, den wir gerade zu beschreiben versuchen, ist nicht besser zu fassen als ein „unter der Hand verbreiten“. Damit sind alle, hier im Spiel befindlichen Hände gemeint: die bildende Hand des Künstlers, die Hand des Vertreibers, ohne dessen Geburtshilfe der Artikel kaum das Licht der Öffentlichkeit erblickt hätte, wie auch die Hände der Käufer, Sammler oder Kunstinteressierten, in die das Werk gelangt.

Wie wir sehen und zeigen wollten, hat also ein spezifischer Typus des bildenden Künstlers die Nachfolge der klassischen Kolporteure angetreten. Wir treten damit in Fußstapfen, die eine gewisse historische Würde ausdrücken und betreiben eine Verbreitung von Gütern, die nach wie vor nicht allein materiell fassbar erscheinen, sondern im Bereich von Information, Kunde und eben Kunst angesiedelt sind.

Mit der Einführung des Internet und seiner allgemein gewordenen Zugänglichkeit ist das Kolportieren in Dimensionen geraten, die wir heute erst ansatzweise zu ermessen beginnen.

Dabei ist es nicht nur der immanente Austausch von Nachrichten faktischen oder fiktiven Inhalts, der hier zur Wirkung kommt und neue Wirklichkeiten prägt. Es ist auch die Leistung der ans Netz angeschlossenen Maschinen und Menschen, Kommunikateure, Blogger, Drucker und Scanner, durch die das Kolportieren ungeahnte Erscheinungsformen und schwindelerregende Ausmaße angenommen hat.

Übrigens sind kolportieren, Kolportage und Kolporteur Ausdrücke, die sich im Amerikanischen, in der Sprache, die das Internet beherrscht, auch als Fremdworte aus dem Französischen nicht finden.

Als technisches, als bildgebendes Verfahren liegt kolportieren zwischen abbilden und freiem Gestalten, zwischen digitaler Photographie und skizzierender Improvisation. Es ist weder an figürliche noch an gegenstandlose Vorlagen gebunden, sondern entwickelt sich aus dem Wechselspiel von Daten, Materialien und Interventionen. Fast möchte man auch hier sagen: es verbreitet sich unter der Hand.

Nach Abfassung dieses Artikels noch ein kurzer Blick in die Auskünfte, die dazu einige Internetlexika liefern.

„Wikidictionary“ gibt als Synome ausplaudern, ausposaunen, ausquatschen, austragen, herumsprechen, weitersagen. Alles Worte mit dem passenden negativen Beiklang, wie vulgarisieren, das vielleicht auch hierzu gehören könnte. Als Gegenbegriff liefert „Wikidictionary“ verschweigen. Ist das richtig? Oder steckt nicht in allem Kolportieren auch ein taktisches Übergehen, Auslassen, Nichterwähnen, Tilgen oder eben Verschweigen von Informationen jedweder Art?

Zum heutigen Sprachgebrauch notiert Wikipedia:
„Im übertragenen Sinn wird ein Medienbericht als Kolportage bezeichnet, der Vermutungen beinhaltet mit dem Zweck, den oder die Angegriffenen zu einer Reaktion zu provozieren – und dadurch die Behauptung erst aufzuwerten, der ursprünglich keine Beweise zugrunde lagen.“

Bei den hier – stellenweise auch in diesem Blog – als Kolportagen vorgestellten Artefakten handelt es sich nicht um Medienberichte im engeren Sinne, aber schon um medial erzeugte Dinge. Sie haben durchaus den Charakter von Vermutungen, von Mutmaßungen oder sogar Verdächtigungen, die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit bestimmter Gegenstände betreffend, denen man heute im Alltag begegnen könnte, praktisch täglich, praktisch jederzeit.

Es steckt für manche Betrachter, wenn auch sicherlich nicht für alle, auch ein provokatives Moment in diesen Mitteilungen. Das hat allerdings überwiegend zu tun mit einer Funktion, die heute vorzüglich der Kunst zugewiesen bleibt: zu reizen, zu verunsichern, zu sticheln im Sinne von stimulieren, hervorzurufen im Sinne von provozieren. Dies soll nicht gewaltsam geschehen, durch Tabubrüche oder durch das lärmende Zerschlagen von Porzellan, sondern auch hier: unter der Hand. Die Hand – sie erscheint auch hier als verdeckendes und ausführendes Organ zugleich.

Eine Reaktion von Seiten der Betrachtenden und gegebenenfalls Betroffenen – wie könnte sie aussehen? Und was sind die Erwartungen auf Seiten des Kolporteurs?
„Mit der Charakterisierung eines Textes oder einer fiktiven Darstellung in den elektronischen Medien als Kolportage, kolportageartig, kolportagehaftige Züge usw. werden Werke kritisiert, die ihren Gegenstand kaum oder überhaupt nicht einer differenzierten, ausgewogenen oder diskursiven Darstellung unterziehen. Die Kolportage ist intellektuell bewusst flach gehalten, verwendet allgemein verbreitete klischeehafte Vorstellungen und Bilder und vermeidet prinzipiell neue Erkenntnisgewinne. Somit ist dieses publizistische Genre weder der Literatur noch der Kunst zuzurechnen, es ist schlicht ein Teil der Unterhaltungsindustrie“[vii]

Die Beschaffenheit, um nicht zu sagen Qualität einer Kolportage hängt am Kolporteur. Aber zu allererst ist sie eine Funktion des Feldes, in dem sie vorgenommen wird. Darin ist der Kolporteur eine Instanz, die allerdings nicht allein zur Verbreitung beiträgt, sondern auch als Mitgestalter oder sogar Miterfinder der Kolportage beteiligt ist.

Als Frage bleibt jedes Mal: was nimmt eine Person an Informationen auf, an Ereignissen, an Fakten, die vielleicht schon im Augenblick ihres Bekanntwerdens von Gerüchten durchdrungen und umwoben sind? Wie wird diese vielleicht sehr subjektive Auswahl weiter behandelt? Was wird ausgelassen, was wird hinzugefügt? Dabei spielen sowohl subjektive wie auch objektive Faktoren eine große Rolle. Dann die Adressaten, das Publikum. Worauf sind die Leute neugierig, was wollen sie gerne wissen?

Der fliegende Hausierer, der ambulante Vertreiber von Gedrucktem, Gemaltem und Illustriertem, von Stichen, Bilderbögen und Regenbogenpresse, von Bildungswerken (wie einst dem Brockhaus) und Schundromanen (wie einst einiges von Karl May) bringt im Hinblick auf die Leute, mit denen er es zu tun hat, ein gewisses Gespür mit. Ihn beschäftigen ihre Vorlieben, ihre Abonnements, ihre Nachfragen und Interessen. Er ahnt, was  in dieser Welt, die er quasi mit Rückentrage oder Bauchlade durchzieht, angeboten wird an Lesestoff, an Bildwerk, und ungedruckten Erzählstoffen. Er hat vielleicht ein Händchen für die Kunde und Neuigkeiten, nach denen seine Kundschaft verlangt.

Die Fortsetzungen, Serien oder eben Kolportage“romane“, die er von Folge zu Folge den Menschen zustellt, etwa auf dem Lande, in entlegenen Dörfern und Ortschaften, in denen es sonst vielleicht nur Bibeln und Gesangbücher (heute Radio und Fernsehen) gibt, bestimmen manchmal die Frequenz seiner Besuche und die Route, der er bei seinen Verkaufstouren einschlägt. Auch die bebilderten Kalender, die er in seinem ambulanten Sortiment einmal im Jahr anbietet, sollten nicht erst nach Anbruch des neuen Jahres an die Käufer gelangen.

Ein Kolporteur in Sachen Kunst findet sein Selbstbewusstsein, seine Würde jedoch darin, dass er sich nicht allein durch Angebot und Nachfrage bestimmen und definieren lässt. Was er an gedruckten und ungedruckten Neuigkeiten vertreibt, bleibt ihm letztlich selbst überlassen. Er selbst arrangiert sein Angebot und mischt Erlesenes und Vulgäres, Glattes und Anstößiges, leichte und schwere Kost wie ein guter Koch, der in der Küche für eine große Gesellschaft anrichtet.


[i] einige, im folgenden enthaltenen Hinweise verdanke ich dem Etymologischen Wörterbuch des Deutschen, das unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer 1989 im Akademie-Verlag in Berlin erschienen ist.

[ii] für Zusammentragen hat das Französische comporter, eine Verbform, die bei den wortgeschichtlichen Erklärungsversuchen von colporter gelegentlich herbeigezogen wird.

[iii] im Wortspiel könnte sich colportage ergeben aus dem Zusammengehen von Reportage und Collage, coll/re/port/age.

[iv] Brockhaus 1808, s.v.“Kolportage“.

[v] dieses Gesetz, ebenfalls aus dem Brockhaus zitiert, stammt vom 1. Juli 1883, §56, Abs. 3.

[vi] Brockhaus 1898, s.v. „kolportieren“

[vii] www.wikipedia.org, August 2010

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