Strabon, das Labyrinth noch einmal besichtigend*

Seit dem letzten Mal haben die Sandverwehungen am Eingang noch mehr zugenommen. Sogar der Führer den ich in Krokodeilonpolis angeworben hatte, vermochte dieses Mal den dünenüberfluteten Türsturz nur mit großer Mühe zu finden. Er ist jetzt ein alter Mann, der letzte seiner Zunft, jemand, auf den – wie er sich ausdrückt –  das Boot unten schon lange wartet. In seinen schlaflosen Nächten hört er das unterirdische Wasser gegen die Bordwände schlagen und das Geräusch des Stricks, den das ungeduldige Zerren des Boots am Bordstein reibt, lässt ihn – sagt er – kaum noch zur Ruhe kommen.
Ja, es ist abzusehen, dass damit auch die Tage sich ihrem Ende zu neigen, in denen ein Besuch des Labyrinths noch möglich war, und dass die Pforte in jene Tiefenschichten, aus denen, wie ich denke, die großen Pyramiden mit ihren einwärts gewölbten schwarzen Kammern und ihrem goldgetriebenen Zenit auskristallisiert sind, schon bald gänzlich verschüttet, vergessen und unzugänglich geworden sein wird.
Das Dorf, von dem ich damals geschrieben habe, dass es auf einem tischähnlichen Platz liege, habe ich dieses Mal nicht mehr entdecken können. So rasch geht die Zeit vorbei, auch hier in Ägypten, wo es für Jahrtausende so schien als wollte sie stillhalten unter dem Eindruck ihrer ungeheuren Ausdehnung. Also das Dorf ist weg, wie vom Sande verweht. Ich habe meinen Führer daraufhin angesprochen. Aber er zuckt mit den Achseln. Er erinnert sich nicht. Seine Erinnerungen beginnen erst in den Konturen, die die Jahrtausende ausmeißeln.
Ich weiß nicht, wie lange wir brauchten, um uns durch Ströme von Sand hindurchzuarbeiten und um die drei oder vier ausgetrockneten, mit herabgebrochenen Felswänden ausgefüllten Flussbetten zu durchqueren. Aber dann sah ich sie auf einmal, die Höfe. Und mit einem Schlage kamen mir die Eindrücke wieder, die sie beim ersten Sehen gemacht hatten: diese hintereinander gestaffelten, anfangs noch nach oben hin offenen Plätze, alle geheimnisvoll miteinander zusammenhängend und doch so präzise gegeneinander abgesetzt, dass es dem darüber gleitenden Blick jedes Mal einen winzigen Stich oder Ruck gibt.
Den Höfen sind Säulengänge angegliedert. Auch sie, jedenfalls anfangs, nach oben hin offen. Wie steinerne Alleen führen sie kreuz und quer auf sehr weite, säulenbestandene Plätze, wo sie in steinerne Haine und kleine Wälder übergehen, die Stämme mächtigem Schilfrohr nachgebildet. Es gibt einen Namen dafür, auf den ich mich nicht mehr besinnen kann, ein Wort, das ich verloren habe, nicht Akanthus, eher Kalmus, ein Gewächs mit gekammertem Körper, Hohlräume, die wie im Halm des Bambusschierlings mit dicken Knoten abwechseln, nur alles aus Stein und ins Riesenhafte vergrößert.
Dem, der sich nun ins Innere der Anlage weiter begibt, scheinen diese teils freien,  teils durchsetzten Höfe in einer einzigen Reihe zu liegen. Welche Richtung auch immer man einschlägt: es ist derselbe tiefenperspektivische Eindruck, der sich nach allen Seiten hin wiederholt. Beim weiteren Vordringen macht sich dann auch die Krümmung mehr und mehr geltend, als ein Prinzip, das auch Oben und Unten zu Seiten umbiegt. Das alles hat, sagt man, mit Schwerkraft zu tun. Daher nennt man solche Verformungen in der Dimension Raum, glaube ich, Involuten oder Einrollungen der Gravitation.

Im Übrigen entdeckt man überall Kontinuität und Regelmäßigkeit. Der Eingeweihte weiß, dass es Täuschungen sind, Täuschungen auf der Ebene der Wahrnehmung, denen eine völlig andere Wirklichkeit entgegensteht. Dennoch gibt man sich ihnen gerne und flüchtig hin.
Es existiert dann noch – eine Stufe darunter oder darüber – eine Schicht, von der man nicht weiß, die aber die Illusionen von Muster und Serie, die Gliederung abrupter und unverwandter Wände und Räume zu nähren scheint. Gelegentlich kommt es zum Durchbruch. Dann schmelzen die hervortretenden Phasen das ein, was sie eben noch bedeckt hielt. In solchen magmatisch gelenkten Vorfällen enthüllen, sagt man, die visionären Ordnungen der Tiefe ihr Antlitz. Da nun das Labyrinth, je weiter man sich hinein begibt, umso stärker gekrümmt ist, kommen solche „Kontaktmetamorphosen“ immer häufiger vor, je tiefer man steigt. Es scheint, als könne es so nicht endlos weitergehen. Aber so weit ein Mensch je gekommen ist, so weit geht es immer so weiter. „Nirgends ist Holz und auch kein anderer Baustoff eingearbeitet“, schrieb ich schon bei meinem ersten Labyrinthbesuch auf. So ist es. Ich habe keine Erklärung dafür. Alles ist aus Stein, wie gewachsen. Wenn man mit der Fingerkuppe über die getäfelten Wände streicht, spürt man höchstens am plötzlichen Wechsel der Maserung, dass eine neue Tafel ansetzt, dass ein anderer Quader beginnt. Dasselbe gilt für den Boden, der ebenfalls naht- und fugenlos ausgelegt scheint, dabei dunkel und glatt wie ein erloschener rauchender Spiegel. Sein Anfang und sein Ende sind so wenig abzusehen wie Ende und Anfang seiner einzelnen Elemente.
Die fast unnatürliche Glätte dieser Dinge bewirkt, dass man sich manchmal wie auf Flächen spiegelblank gefrorenen Wassers vorkommt und entsprechend bewegt. Daher empfiehlt es sich, diesem Sachverhalt möglichst wenig Bewusstsein zu widmen. Wie es überhaupt die eher phantasmatischen Einsprengsel sind, über die man dort zu stolpern Gefahr läuft: aus dem Estrich ragende Schatten wie von abgeschlagenen Strünken, während aus der schwarzen Tiefe, aber reglos und starr, mit grellem und erschreckendem Zwinkern irgendwelche Gasblasen aufsteigen.

Um auf die Höfe zurückzukommen: mir hat es immer wieder Mühe gemacht mich an ihre Fensterlosigkeit zu gewöhnen. Und so sind sie durchweg: in der Peripherie des Labyrinths meistens nach oben hin offen, auch wenn sich gerade dort, wo auf den Plätzen die Säulen in kleinen Hainen zusammen stehen, Gewölbe angedeutet finden, aber filigran und durchbrochen wie das Laubwerk, das in einem steinernen Walde die Schäfte der Bäume ausbreiten.

Mit diesen Höfen, die untereinander allesamt verbunden scheinen, teils über eingezogene Schwellen, teils über unabsehbar gewundene Galerien und Flure, hatte das Labyrinth zu Anfang seinen ersten Eindruck hinterlassen, und in ihnen setzt es sich ins endlose fort. Bei geschlossenen Augen nimmt es die Struktur einer Spinnwebe an, deren Fäden in die entferntesten Gegenden ausgezogen sind, in denen vielleicht unsere Wiegen und Grabkammern stehen, und extragalaktische Orte, in denen die Pfade und Fäden lose aufgehängt sind.
Also in diesen Höfen liegt es, aus ihnen strebt es ins Unendliche fort. „Hof“lässt vielleicht an „Lichthof“denken. Den spezifischen Eindruck, den ein Besucher in ihnen empfängt, gibt das Wort „aulé“, das ich seinerzeit schrieb, noch besser wieder. „Aulé“ spielt mit „aulós“ und versetzt ins Innere etwa des Rohrs, in den Hohlraum, der sich in immer neuen Ansätzen durchs Röhricht zieht, in Endlostunnel, Schleusen, Kanäle … Daher zeigt „aulé“ ein wenig von der perspektivischen Flucht, die das Labyrinth überall antritt, wo auch immer man steht. Und in die Ferne gesehen, wo die Höfe sich zu Kapillaren verengen, fällt von oben das Licht wie durch die Schall – oder Grifflöcher einer Flöte herein.
Jeder Hof hat, wie gesagt, von jedem anderen her, wie weit entfernt der auch sein mag, einen Zugang. Mindestens einen, mitunter auch mehr. Untereinander sind diese Eingänge jedoch unverbunden. Das ist schwer zu verstehen, wird aber von jedem, der einmal dort gewesen ist, bestätigt werden. Je mehr man sich von der Peripherie einwärts entfernt, umso dichter rücken die Höfe ineinander, ohne dabei aber an Geräumigkeit und Umfang zu verlieren. Es ist dann so, dass in ein und derselben „aulé“ fünf oder sechs weitere zur Deckung kommen. Ob das auch für die Nebengelasse und unterkammerten Gänge gilt, die von den Hauptplätzen seitlich in großer Zahl abgehen und im weiteren Verlauf, wie mein Führer mir andeutete, ihr eigenes Schicksal erleiden, habe ich nicht herausfinden können. Ich vermute, dass diese Krypten, wie ich sie damals genannt habe, quasi blinde Ausgänge darstellen, oder vielmehr Verzweigungen im Übergang zu den Ordnungen des subelementaren Universums. Sie erscheinen mir wie Fasern, die das Labyrinth in seine nächtlichen, von glimmenden Partikeln durchschwirrten Abgründe ausschickt.

Gegen Mittag hatten wir einen Ort von etwa 48-facher Kongruenz erreicht. Mein Führer, offenbar sehr stark den magischen Vorstellungen ausgesetzt, die sich in diesen Regionen allerdings auch einem Reisenden aus aufgeklärten Weltgegenden aufdrängen, weigerte sich hartnäckig, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Ich kann schlecht abschätzen, wie viel Grad die sphärischen Evolution oder Raumbeugung betragen mochte. Mit leichtem Bedauern gab ich nach und merkte erst beim Aufstieg, der sich buchstäblich maßlos hinzog, dass im eingestülpten Raum jeder Schritt nur virtuell auf den Horizont zielt, in Wirklichkeit aber die Vertikale verfolgt, so das der Labyrinthgänger tatsächlich „in den Sprossen des Senkbleis“ absteigt, wie die Kundigen sagen.

Als wir schließlich den letzten der nun wieder immer weiter auseinanderliegenden Höfe erreicht hatten, wo das Labyrinth regelrecht ausdünnt und schließlich flach wie eine Kinderhand daliegt, bat ich, wie schon beim ersten Mal, meinen Führer, mir auf das Dach hinauf zu helfen, um zum Abschied noch einmal einen Blick über das „steinerne Feld“ werfen, über die im Prinzip monolithische Außenfläche des Labyrinths. Aber als der Alte meine Hand losgelassen und ich mit der anderen gerade Halt gefunden hatte an einem Strunk, den ein abgestorbener und schon in Urzeiten verschwundener Baum hier hinterlassen haben mochte, und wie ich mich gerade vorsichtig aus der Hocke aufrichten wollte, war von dem gewaltigen Dach, eben von dem „steinernen Feld“ (wie ich es seinerzeit genannt hatte), auch nicht eine Handbreit zu sehen.
In den – vom Abendlicht durchfluteten [Dragon: durchbluteten] – Himmel dehnte sich ein unregelmäßig gewellter, von Trockenrissen durchzogener Boden. Der Grund eines ausgetrockneten Sees, war mein erster Gedanke. Mit lautlosem Flügelschlag zog, von den Strahlen der gerade versunkenen Sonne noch eben berührt, eine Schar grauer Kraniche hoch oben vorbei. Man nennt sie in dieser, schon stark nach Westen fallenden Gegend des Nils „Schatten der Wimper“, woran vielleicht etwas Zutreffendes ist.
Auf einer unregelmäßigen Spur, von kleinen Wassertieren aus Zeiten hinterlassen, als hier das Wasser noch bis an die steinernen Brüste der Sphinx reichen mochte, fand ich im klaren Licht der wiedergekehrten Sterne auf die alte, inzwischen geborstene Straße am Ufer zurück. Zurück –? Ich weiß es bis zu diesem Augenblick nicht. Werfen die Bewohner von Krokodeilónpolis ihren zahllosen Reptilien immer noch zerschnittenes Fleisch vor? Und Alexandria, steht Alexandria noch, und draußen der Pharo, auf umbrandetem Sockel aus Glas? Wie weit sind die Bauarbeiten in Knossos gediehen? Und die Kanäle und Kabel, die Arbeiten im Feld, auf den Trümmerfeldern der Schwerkraftverschränkung?
Mögen sich andere um die Beantwortung dieser Fragen bemühen. Sie sind näher daran. Sie sind weiter darin, denke ich, wogegen mich noch immer das Rätsel der Sphinx hält und die Erkundung jenes wunderbaren Stoffes, in den unser Verstand uns verhüllt und verstrickt hält.

*) 19.12.1987, überarbeitete Fassung vom 08.12.1986, über Dragon eingetragen 12.06.2020