Ein Beispiel: Lukas 17,5-6:
In Lukas 17, 5-6 bitten die Apostel Jesus, ihren Meister und Herrn: prósthes hemin pístin, übersetzt mit stärke unseren Glauben. Korrekter wäre füge uns (einen) Glauben (hin)zu.
Jesus geht auf diese Bitte ein oder konterkariert sie durch ein Bild oder Gleichnis. In der heute gängigen „Einheitsübersetzung“:
Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: Heb dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden, und verpflanz dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.
Dieser Passus ist schlicht skandalös. Die Jünger bitten, wenn wir sie recht verstanden haben, um Kräftigung ihres Glaubens. Und Jesus lässt sie erbarmungslos auflaufen.
Ihr wollt, dass eurem Glauben hinzugefügt wird? Ihr habt doch gar keinen – wie könnte da Glauben zugesetzt werden. Hättet ihr auch nur ein Quäntchen Glauben, ein Quantum vom Umfang eines Senfkorns, dann … usw.
Nun ist schwer vorstellbar, dass Jesus einer ernstlich bittenden Jüngerschaft eine derartige Abfuhr erteilt. An anderer Stelle gibt derselbe Jesus das Bild vom Vater, den der Sohn um ein Stück Brot bittet und diesem bittenden Sohn keinesfalls statt des Brotes einen Stein oder statt eines erbetenen Eis etwa einen Skorpion reichen wird. Aber die hier gegebene Erwiderung hat genau die Qualität von Skorpion und Stein, nämlich hart und unverdaulich, ohne jeden einsehbaren Nährwert.
Oder sollte sie, richtig gelesen und verstanden, womöglich doch nährend und genießbar sein?
Den Vorwurf des Mangels an Glauben krönt der Lehrer und Meister mit einer horrenden Folgerung: wenn ihr Glauben h ä t t e t , dann würdet ihr zu dem Maulbeerbaum sprechen, entwurzle dich und verpflanze dich ins Meer – und der würde gehorchen!
Ein Glück, im Stillen gesagt, oder auch ganz laut herausgerufen, ein Glück, dass wir solchen Glauben, dass wir diesen Glauben nicht haben!
Wenn das christliche Glaubenskraft sein sollte, dann lieber ohne!
Nun liegt das Verständnis dieser Stelle vielleicht genau darin, anstößig zu sein, skandalös und/oder irgendwie erratisch, delirant, ausgebrochen aus dem durch Glaubenskräfte gebildeten, also rechtgläubigen oder orthodoxen Hauptstrom. Aus Überzeugung und Erfahrung wissen wir, dass zur Entwicklung eines überlebensfähigen Glaubens die Einübung in Zweifelsfälle und Stolperfallen gehört.
Zum Bild des erbarmenden Jesus muss immer wieder auch das des erzürnten und zornigen Jesus hinzugedacht werden, der ohne triftigen Grund einen Feigenbaum verdorren lässt, gelegentlich Gerichtsszenen und Straforte vorstellt, einmal sogar seinen eifrigen Nachfolger Petrus im Jähzorn mit du Satan anfährt.
Ein verletzter und verletzender Messias, der nicht nur Erweckung verheißt, sondern auch Zähneklappern und Heulen androht.
Eine erste, daraus zu gewinnende Einsicht:
im Glauben kann und darf es kein Rechtglauben, keine Rechtgläubigkeit (Orthodoxie) geben.
Zweite Einsicht:
alle Texte müssen für das persönliche Verständnis und für das individuelle Leben immer wieder neu gelesen, neu übersetzt und verstanden werden.
Hier ein Versuch, den griechischen Originaltext wörtlich zu nehmen und dadurch ‚frei‘ zu übersetzen, d.h. zu einem alternativen Sinn zu verhelfen:
Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, also den Glauben, den ein Senfkorn hat, dann … usw.
Hat ein Senfkorn ‚Glauben‘?
Ja, es hat ihn. Er steckt in der ebenso gewaltigen wie blinden Kraft, die die Schale des Korns sprengt und sich dann zur vollen Pflanze auswächst, zur Senfstaude, die an anderer Stelle von Jesus mit einem Baum gleichgesetzt wird. Jeder Glaube ist wachstümliches Potential, eine derartig entwickelnde und entfaltungsfähige Energie.
Sie wird den Jüngern als enorme naturhafte und natürliche, zugleich aber auch blinde Dynamis vorgestellt. Mit dem Samenkorngleichnis wird die „Natur“ des Glaubens gleichzeitig illustriert und kritisiert. Glaube ist eine Gewalt, die aber nicht blank übergeben und in eigene Regie genommen werden kann. Als Lebenskraft ist sie da, um dennoch erst noch angeeignet und auf neuen Sinne und Ziele ausgelegt zu werden, die sich mit der Einsetzung des Reichs der Himmel und aus der Anerkennung dieser naturübersteigenden Transzendenz ergeben.
Der rohe, den Menschen unvermittelt aus-gelieferte Glaube würde in destruktive und sinnlose Aktivitäten übergehen und ausagiert werden, so, wie Jesus sie mit der Entwurzelung und Verpflanzung des Maulbeerbaums illustriert.
Die christlich-abendländische Geschichte ist bis zum heutigen Tag gespickt mit missbräuchlichen Verwendungen von Glaubensmacht, von gelegentlich erhaltener und verkehrt angewendeter Vollmacht in Sachen ‚Glauben‘. Kirche, aber eben nicht nur Kirche, sondern auch Wissenschaft, Technik und nicht zuletzt Wirtschaft lassen sich erkennen als Räume oder Bereiche, in denen die unrechtmässige Aneignung von Glaubenskraft immer wieder erfolgt. Heute werden gerade in der ökonomischen Spekulation, im Finanzwesen und an der Börse, aber auch in der naturwissenschaftlichen Überzeugungsbildung Glaubenskräfte immer wieder fehlgeleitet. Hier wird dann ‚Glauben‘ als falsche, nämlich als rechtgläubige Gesinnung oder sogar ‚Gewissheit‘ immer wieder organisiert und durchgesetzt.
Aufgabe einer wirklich christlichen Heilsgeschichte kann nicht die Erweckung und Durchsetzung von Glauben an sich oder per se sein. Entscheidender ist vermutlich die Bewegung der unter diesem Begriff gefassten Lebenskräfte, ihr Hinaustreiben in eine Offenheit, die alles je verstandene, unter Natur, Technik, Wissenschaft oder Glaube je gefasste weit und in manchmal schwindelerregendem Ausmaß übersteigt.