Bann und Befehl

Zusammenfassung

Mit der Einführung des Begriffs des „banalen Bösen“ hat Hannah Arendt heftige Diskussionen ausgelöst. Zum Teil dauern sie noch heute an.

Sie gehen (und gingen) von einem vordergründigen Verständnis des Begriffs banal aus.Dessen Bedeutungshintergrund und Suggestivkraft werden auch aktuell noch immer unterschätzt. Der Terminus „Bann“ umreißt psychische und gesellschaftliche Bedingungen von Handeln, die bis heute nicht ausgelotet sind. [1]


[1] der Rekurs auf den Begriff „Bann“, wie er im Folgenden durchgeführt wird, erhält seine Berechtigung aus einer Notiz, die sich in Arendts Benjamin-Essay befindet. Die dortige, auf das „Benjaminsche Denken“ bezogene Notiz, lässt sich ebenso gut auf das Denken Hannah Arendts beziehen. Text aus „Menschen in finsteren Zeiten“, Essay zu Benjamin, 216, s.u. Anhang

Vom Verständnis dessen, was „Bann“ meint, erhoffen wir uns eine Erhellung der Antriebe und Zwänge von außen und innen, aus denen heraus die nationalsozialistische Bewegung und Bevölkerung agierte.

Im Folgenden soll zum „Bann“ der Begriff des „Befehls“ herangezogen werden, dem im Werk Elias Canettis[1] eine bemerkenswerte Auslegung zuteil geworden ist.Er spricht vom „Befehlsstachel“, vom Stachel des Befehls. Was dieser Begriff „Befehlsstachel“ beinhaltet wird später erläutert.
In der Zusammenschau und Verknüpfung der Tiefenschichten des Banalen, die der Begriff des Bann erschließt, mit den Assoziationen, die Canetti zum Befehl liefert, soll ein Zugang zu den Beweggründen der Judenvernichtung gesucht werden, die bisher nicht ins Bewusstsein getreten sind. Susan Neimans Buch „Das Böse denken“  sind dabei manche  Anregungen zu verdanken und wohl auch die Ermunterung, das Böse weiter zu denken, es in ein anderes Licht zu rücken, und sei es auch nur, um seiner Unbegreiflichkeit erneut inne zu werden.[2]
Arendt und ihre Schrift „Eichmann in Jerusalem“ nehmen in diesem Buch bedeutenden Raum ein.  Canetti hat als Zeitzeuge zum Verständnis der Vorgänge, auf die sich Arendt bezieht, Wesentliches beizutragen.  Doch in Neimans Buch bleibt er unerwähnt.

*

Arendt dachte und sprach in zwei Sprachen, im Deutschen und im Amerikanischen.

Daher ist es ratsam, der amerikanischen wie der deutschen Wortbedeutung  von banal nachzugehen.

Cotgrave definiert in seinem French-English Dictionary aus dem Jahre 1611 das aus dem Französischen übernommene Wort „banal folgendermaßen: “common; which anyone may, and everyone … must, use and pay for the use of.“[3]

Zwang und Motiv sind hier schon zusammengeschlossen

Im Brockhaus von 1898 liest man:

“Banal, von bannus (mittellateinisch), dem Bann (Gerichtsbarkeit) unterworfen und so dem Herrn abgabenpflichtig, im Mittelalter von Menschen und Grundstücken[4] gebraucht; daher dann: jedermann zu freiem Gebrauch überlassen, alltäglich, abgenutzt. – (Banal bedeutet auch unter einem Ban, s.d., stehend).“[5]

Auch hier deutet sich schon die Herrschaft des Banns an.

Er impliziert die „zwingende Gewalt“ und die Bedeutung von bannen = befehlen, vor Gericht fordern

Bann steht „für die ‚Gerichtsbarkeit‘ über Leben und Tod (…). Heute wird Bann nur noch zur Darstellung und Beschreibung ‚mittelalterlicher‘ Verhältnisse verwendet oder aber übertragen im Sinne von ‚zwingende Gewalt, Fesselung, Zauber‘ (jemanden in seinen Bann ziehen/ bzw. schlagen).“[6]

Es liegt also der merkwürdige Sachverhalt vor, dass Arendt das Böse mit einem Begriff zu „entdämonisieren“ (Neiman) scheint, es aber gleichzeitig in einer Dimension des Magischen und  buchstäblich Faszinierenden (Fesselnden, Bannenden) auflädt.

Was ist es eigentlich, das in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts eine Macht durchsetzen konnte, die als bannend, als bannende Instanz auftreten konnte?

Diese Macht scheint Kant zu folgen, der schreibt: Zur Überwindung des Bösen und zur Befestigung der Herrschaft des Guten diene das Reich der Tugend ( das ‚Reich Gottes auf Erden‘)

Und: Die ‚Vorsehung‘ verschafft … einen Ausgang, ‚welchem die Zwecke der Menschen, abgesondert betrachtet, gerade entgegenwirken.“[7]

Die List der Vernunft befördert aber nicht nur die gute Seite im Menschen, sondern auch die unheilstiftende.

Hitler hat sich bekanntlich gerne auf eine, wie auch immer pervertierte Vorsehung berufen.

Eine numinose Instanz, der dann auch andere sein unbeschadetes Überstehen sämtlicher Attentatsversuche zuschrieben, ebenso die außenpolitischen und daran anschließenden militärischen Erfolge an allen Fronten. Das hat Hitler in den Ruf gebracht bannfest, in anderen Worten unverletzbar zu sein.[8]

Das nahm für ihn ein.

Das Reich, das so genannte Dritte Reich, war dazu bestimmt, die Ziele der Vorsehung als Organisation, als Korporation durchsetzen.

Das finale Ziel ist, mit den Augen der Nationalsozialisten gesehen, eine Verbesserung der Menschheit auf rassisch-genetischer Grundlage mit einem zugeordneten ideologischen Überbau. Die Durchsetzung dieses Endzwecks ist Inhalt und befehlsmäßiger Auftrag ans Kollektiv wie auch an die Einzelnen. Es ist nicht nur Programm, irgendein Vorhaben, sondern etwas, was dem nationalsozialistischen „Gemeinwesen“, der „völkischen Gemeinschaft“ und den Einzelnen auferlegt von einer höheren Macht auferlegt ist. Das macht die Unausweichlichkeit des Banns aus.

Die zur Durchsetzung erforderlichen Maßnahmen treffen auf Widerstände und Bedenken unterschiedlicher Art. Aber das finale Wohl der Menschheit, dessen Realisation die Nationalsozialisten in ihren Ideologemen eher suggestiv angedeutet als wirklich ausformuliert hatten, soll subjektive Bedenken und Hemmungen hinwegspülen. Gefragt ist die heldische Überwindung moralischer und humanitärer Skrupel.

Die Erledigung einer als welthistorisch einmalig gedachten und erstmalig in Angriff genommenen Aufgabe erfordert dieser Ideologie folgend den gebündelten und heroischen Einsatz sämtlicher Kräfte und zugleich die Vernichtung aller bereits wirkenden oder sich nun erhebenden Gegenkräfte. Diese sind vor allem im Jüdischen, in jüdischer „Rasse und Artung“,  verkörpert.

Das völkische Deutschland unter der Leitung eines für diese Aufgabe auserkorenen Führers ist ausersehen, der arischen Rasse und dem germanischen Gedanken zum Endsieg auf der Erde zu verhelfen.

Eine weltgeschichtliche Sendung.

Sie ist keine aus freien Stücken.

Für sie gilt insgesamt dasselbe, was Canetti zum Befehl ausgeführt hat. „Es ist wichtig für den Befehl, daß er von außen (oben D.B.) kommt. Allein wäre man nicht auf ihn verfallen. Er gehört zu den Elementen des Lebens, die auferlegt sind; niemand entwickelt sie in sich selbst. Selbst dort, wo einsame Menschen mit einer ungeheuerlichen Häufung von Befehlen plötzlich hervortreten und einen neuen Glauben zu begründen, einen alten zu erneuern versuchen, wird der Schein einer fremden, auferlegten Last immer streng gewahrt. Sie werden nie im eigenen Namen sprechen. Was sie von den anderen verlangen, ist ihnen aufgetragen worden; und so sehr sie in manchem lügen mögen, in diesem einen Punkt sind sie immer ehrlich; sie glauben, daß sie geschickt sind.“[9]

Psychologisch gesehen liegt offensichtlich eine phantasmatisch Imagination zugrunde. Sie hat die Banninstanzen nicht eigentlich selbst geschaffen, aber sich ihnen unterworfen. Die Leitideen dazu hat sie, um mit Canetti zu sprechen, aus der Luft geholt, in der sie schon vor dem verlorenen ersten Weltkrieg lagen.

In dieser Konstellation kommt einer Instanz Bedeutung zu, die man als Blutbann bezeichnen könnte.

Das ist ein alter Begriff mit Doppelsinn: einmal meint er die höchster irdische Gerichtsbarkeit, die über Tod und Leben verfügen kann.

Zum anderen ist Blutbann zu verstehen als die suggestive Kraft einer Blutvorstellung, die mit dem Rassengedanken aufs engste verknüpft wird.[10]

Ein historischer Zufall? Eine historische Notwendigkeit?

Wohl keines von beidem, sondern Folge einer Geschichte mit Tiefenschichten.

Jedenfalls eine fatale Verknüpfung und Koinzidenz zugleich, aus der den Nationalsozialisten die Gelegenheit erwächst, unter dem Deckmantel einer höheren Sendung und Fügung eine Judenfeindlichkeit auszuagieren, die zu weiten Teilen auf Missgunst basiert.[11]

Die Durchführung eines Blutgerichts, in dem Hinrichtung und Opferung zusammenfallen, soll der Reinheit des Blutes der nordischen Rasse dienen.

Kommen wir auf Canettis Befehlsstachel zurück. Für Canetti ist der Befehl lebensbedrohend. Der Tod wird als Strafe für die Nichtbefolgung eines Befehls in den verschiedensten Lebenssituationen eingepflanzt. Das wird bereits dem Kind eingebleut: „Lass das, sonst – du wirst schon sehen, was passiert!“

„Man wird gut tun, daran zu denken, wenn vom Befehl unter Menschen die Rede ist. Das Todesurteil und seine erbarmungslose Furchtbarkeit schimmert unter jedem Befehl durch.“ [12]

Er ist das Element einer fremden, lebensbedrohenden Macht.[13]

Die Todesdrohung wird im Befehlsstachel mit- und weitergegeben.

Er ist vielleicht zu verstehen als feindliches/feindseliges Introjekt.

Ein ins Unbewusstsein eingedrungener Fremdkörper, ein Niederschlag, dessen man sich nur dadurch entledigen kann, dass man den erhaltenen Befehl weitergibt, überträgt, in andere fortpflanzt.

Im Befehl steckt der Zwang zur Wiederholung. Das, was einem mit der Ausführung eines Befehls angetan worden ist, vielleicht kann man es Unterwerfung nennen, drängt auf Abfuhr. Dadurch, dass jemand seinerseits Befehlsmacht erhält und Unterwerfung, Gehorsam erzwingen kann, erhält er die Chance, das feindliche Introjekt im eigenen Unbewussten zurückzudrängen und in Selbstermächtigung umzuwandeln.

Einem Befehl entzieht man sich natürlicherweise, d.h. auf einer frühen, einer primitiven Kulturstufe, durch Flucht. Man sucht Ausflüchte, um dem Befehl und dem Zwang zur Durchführung zu entgehen.

Diese Möglichkeit ist allerdings nicht in allen gesellschaftlichen Konstellationen gegeben.

Sie ist einem Soldaten, der im organisierten soldatischen Bewusstsein lebt, verstellt aus Angst vor Disziplinarmaßnahmen.

Sie ist auch dem Helden, dem ‚Selbstüberwinder‘, gleichsam aus eigenen Stücken versagt.

Beide Typen stellen sich nolens volens in den Bann des Befehls.

Freiwilligkeit und Zwang vermengen sich.

Das vielleicht Schlimmste an solchen Unterwerfungen ist das Einfrieren aller persönlichen Gefühle, vor allem der Mitleidsregungen.

Die Tötung der anderen auf Befehl erscheint notwendig, um der hinter dem Befehl lauernden Todesdrohung zu entgehen, genauer: um ihr durch die Tötung anderer zuvorkommend zu genügen.

Eine Satisfaktionsleistung, auf die der Befehl von Anfang an hindrängt.

Darin besteht seine ursprüngliche Forderung.

Menschen handeln auf Befehl.

Wie kommt es dazu, dass Menschen ohne Selbstreflexion „auf Befehl“ handeln?

Unter Bann bekommt der Befehl Autorität wie ein Diktum, ein Numen, das vom Befehlenden nicht gegeben, sondern weitergegeben wird. Ein Wink, der von einer überpersönlichen Macht herkommt. „Die Macht sendet Befehle aus wie eine Wolke von magischen Pfeilen.“[14]

Außerhalb des Bannraums gibt es gegen den Befehl und den Befehlenden die Möglichkeit und das Recht, ja eine Pflicht des Einspruchs. Doch im militärischen Bereich und erst recht im Kriegs- und Krisenzustand ist das Recht zum Widerspruch, zur Verweigerung eingeschränkt.

„Zum Befehl gehört es, daß er keinen Widerspruch erlaubt. Er darf nicht diskutiert, nicht erklärt oder angezweifelt werden.“[15]

Eine Person innerhalb des Bannraums macht sich den Befehl als Pflicht schleunigst zueigen, um ihm umgehend und insbesondere bedenkenlos nachkommen zu können. Das garantiert eine Glätte[16] und beschleunigt eine Handlung, ein Geschehen, das möglichst schnell erledigt werden will, dessen man sich entledigen möchte. Ein Befehlsstachel, den man umgehend loswerden will.

In diesem Sinne sind die sonderbaren Kommandos der KZ-Schergen in Auschwitz beim Empfang eines neuen Transportes zu verstehen, dieses immer wieder ohne objektive Notwendigkeit gebrüllte „schnell schnell!“, das einem aus nahezu allen Berichten Überlebender entgegentönt.

Diese in der gegebenen Situation unmöglich zu erfüllende Aufforderung ergeht infamerweise an Menschen, an deportierte Juden, die auf die unterste und letzte Stufe der Sprossenleiter der Befehlsempfänger verbannt worden sind. Sie haben keine Chance, ihn weiterzugeben, nicht einmal an sich selbst.

Damit tritt ein Augenblick ein, in dem die Todesdrohung sich unverhüllt und unmittelbar den Befehlsempfängern mitteilt, die jetzt nur noch Opfer sind. Schädlinge, Ungeziefer oder einfach routinemäßig zu vernichtendes Menschenmaterial.

„Die Macht“, so wurde Canetti vorhin zitiert, „sendet Befehle aus wie eine Wolke von magischen Pfeilen.“[17] Im Raum des Bannes werden Kräfte erweckt, die uns aus Suggestion, Hypnose und Tabugesetz bekannt sind.

Die genannten Kräfte werden besonders in Großgruppen und Menschenmassen wirksam. [18]

Sie liefern Energien und Antriebe, die zum Handeln anleiten und irrational erscheinende Einstellungen bekräftigen, Einflüsse und Impulse, derer man ‚außerhalb‘ enthoben ist. ‚Außerhalb‘ im gemeinten Sinne wäre so viel wie exoterisch, wobei von der Annahme ausgegangen wird, dass es sich beim Bann um ein nicht nur profanes Phänomen handelt, sondern um eines, das mit (pseudo)sakralen Elementen ausgestattet und durchsetzt ist.

Diese gleichsam kultischen Momente zeigen bzw. verbergen sich insbesondere in der magisch aufgeladenen Blutkonzeption oder –idee.

Sie zeigen sich aber auch in einer blinden Befehlsbefolgung, in der Form von Gehorsam, der den Jesuitenorden seinerzeit berüchtigt gemacht hat („Kadavergehorsam“).

Die nationalsozialistische Bewegung bemühte sich um eine Wiedererweckung diverser historischer Konfigurationen, die von vielen für längst überwunden gehalten wurden, knüpfte an atavistische Traditionen an, aktualisierte und klitterte sie in einer heute geradezu grotesk erscheinenden Weise.[19] Der Todeskult der SS, ordensmäßige Organisation, Blutapotheose, Rassenhygiene und mancherlei mehr strukturieren einen Bannraum, die dem Befehl eine numinose Färbung verleihen konnte. Das ganze ein kryptisch pseudoreligiöses Gebilde.[20]

Wenn wir heute, im Rückblick auf jene Epoche, mitunter das Bild der Maschinerie herbeiziehen, hätten sich die überzeugten Nazis eher als Bestandteile eines großen Volkskörpers gesehen, also eine organische Sicht der späteren mechanischen vorgezogen. Diese wurde dann bekanntlich von Eichmann und Gesinnungsgenossen übernommen und verdeckt in der Redeweise vom „kleinen Rädchen im großen Getriebe“. Wobei Eichmann in Interviews auch die andere Seite preisgegeben hat, er habe mitgedacht und sein Bedauern ausdrückte, dass er nicht alle Juden hat umbringen können.

Gegen den Slogan „Befehl ist Befehl“ hat Canetti an anderer Stelle eine andere Deutung gegeben:

Der Befehlsempfänger führt den empfangenen Auftrag aus als eine gerade für ihn – und nur für ihn – bestimmte Aufgabe.

Der Befehl ist keinem anderen anvertraut, allein ihm.

Die Ausführung stellt ihn auf die Probe.

Sie stellt eine Zumutung dar, der er sich zu stellen hat.

Wird es ihm gelingen, über seinen Schatten zu springen?

Ein Befehl hat viele Aspekte:

er versucht, er erprobt, er prüft, er vertraut an.

Befehl ergeht – so scheint es den Befehlsempfängern – weil man ihnen das Vermögen zutraut, den Befehl in die Tat umzusetzen.

Befehl unterwirft und zeichnet aus, autorisiert

Befehl leistet eine vertikale Verknüpfung, von oben und unten

Befehl als ‚Zumutung‘ und als Vertrauenserweis.

Doch zurück zum Befehl als Stachel:

Jeder Befehl ist im Grunde ein du sollst, bzw. ein du sollst nicht, also ein Gebot oder Verbot, imperativ oder prohibitiv, dem die Gesetzgebung am Sinai exemplarisch zu Grunde liegt.[21]

Die kulturfeindlichen Tendenzen im Antisemitismus richten sich schließlich gegen jene, die dieses Sollen in die Welt gesetzt haben, durch die es verordnet ist. Haben nicht sie alle ins „Soll“ gebracht, im profanen Leben als Geldleiher, Wucherer, Kapitalisten usw.?[22]

Sollen ist schuldstiftend. Es ist im Judenhass ein wichtiger Faktor.

Moral und Sittlichkeit, Mitleidsforderungen und andere Gebote mit jüdischem Hintergrund werden in ihrer Verkehrung gesehen. Und ist es nicht tatsächlich so: Stachel und Stift – von den Stiftern der jüdisch-christlichen Kultur kommen wohl auch die Stachel.
Mit Canetti gedacht: im Dritten Reich werden die Juden auf die unterste Stufe der Befehligten verbannt. So kann Rache an ihnen geübt werden für die Kultivation und Domestikation, die mit dem mosaischen Gesetzgeber angefangen hat.[23]

In der dabei auftretenden Unbarmherzigkeit wird der zu Rache und Strafe neigende Gott der Juden gleichsam mimetisch aufgenommen. Die Folterer und Henker spielen diesen projizierten Gott nach. Ein zorniger Gott. Die Juden werden seinem Zorn geopfert.Es ist so etwas wie eiskalter Zorn und Ingrimm in der versachlichten Durchführung des Tötungsgeschäfts zu spüren. In dieser Hinsicht trifft die Bezeichnung der Shoah als Holocaust, als Ganzopfer, ein richtiges Moment.

Wenn es stimmt, dass die Tilgung von Schuld und die Begleichung von befehlerischen Forderungen ein Beweggrund zur Vernichtung der Juden war, dann wird auch ersichtlich, warum nach 1945 die erwünschte Übernahme der Verantwortung für „das Verschuldete“ so schwer gefallen ist und heute noch auf Abwehr stößt.

Der Begriff Schuld, gerade der einer Kollektivschuld, ist so belastet, dass auch heute ein schlichtes Eingeständnis wie „ich bin nicht dabei gewesen, aber es tut mir weh, es tut mir leid“ in der Regel unmöglich geblieben ist bei Personen, die im Dunstkreis fortwirkender nationalsozialistischer Ideen und NS-Gedankenguts verblieben sind.
Bekanntlich kam Hannah Arendt während der Arbeit an dem Buch „Eichmann in Jerusalem“  zur Einsicht  und Anerkennung der „Banalität des Bösen“.

In einem Brief an Mary McCarthy, für die das Eichmannbuch „mit Erlösung zu tun“ hat, schreibt sie: „Du bist die einzige Leserin, die verstanden hat, was ich sonst noch nie offen gesagt habe – dass ich nämlich dieses Buch in einem seltsamen Zustand von Euphorie schrieb. Und seit ich es tat, empfinde ich – noch 20 Jahre später – bei der ganzen Sache Heiterkeit. Sag es nur ja niemandem; ist das nicht ein positiver Beweis dafür, dass ich keine ‚Seele‘ habe?“[24]

In einem Brief an Scholem charakterisiert sie das Böse, gerade auch das wuchernde und um sich greifende Böse als ein Oberflächenphänomen: „Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert.“ [25]

Könnte es sein dass die in der Tat befremdende Euphorie Arendts durch die Erleichterung darüber  herbeigeführt wurde, dass das Böse von außen kommt, verordnet wird,[26] sich apersonalen Bedingungen und Strukturen verdankt, die nicht im Humanen selbst verwurzelt sind, sich dort höchstens verankern?

Vielleicht sah sie auch im Lauf der Niederschrift zentrale Annahmen, die sie in ihrem politphilosophischen Hauptwerk gemacht hatte, The Human Condition (Chicago 1958), als Beobachterin des Eichmannprozesses mehr und mehr bestätigt. Das banale Tun und Geschehen ließ sich, bei all seiner Bösartigkeit, doch in ihrer Hierarchie des „Tätigen Lebens“, der „Vita activa“ unterbringen, wenn auch auf der untersten Stufe. Bereits in der Arbeit findet ihres Erachtens eine Einschränkung und Herabsetzung des wesentlich freien und freiwilligen Handelns statt, eines Handelns, das alle zwischenmenschlichen Aktivitäten umfasst, die auf Änderung (im Sinne von Verbesserung) der bestehenden Welt zielen. Diese Herabsetzung oder Passivierung der eigentlichen und menschenwürdigen Aktivität erscheint dann im banalen Raum, also gleichsam unterhalb der Stufe „Arbeit“, noch verschärft. Eine graduelle, aber keine radikale Minderung „Tätigen Lebens“. [27] In diesem Gedankengang begibt sie sich in große Nähe zu Canetti, der dem Befehl ja ebenfalls eine externe Herkunft und damit autoritärer Macht keine anthropologische Notwendigkeit zuerkennt.

Exkurs zum Banner

Unter Banner versteht man das über dem Bannbereich aufgerichtete Zeichen. Es signalisiert Herrschaft und nur der Machthaber, Feldherr, oberste Befehlshaber ist autorisiert, es aufzurichten. Im Banner des Dritten Reichs steht das Hakenkreuz. Mit ihm war von Anfang an, als es vom Deutschvölkischen Schutz- und Trutzverband eingeführt wurde, eine antijüdische Stoßrichtung gegeben. Diese Organisation, ein Tochterverband des Alldeutschen Verbands, war mit der Aufgabe betraut, sich ganz der Bekämpfung des Judentums und des jüdischen Einflusses zu widmen. „Nach wenigen Monaten schon hatten sich unter diesem Namen und in diesem Zeichen annähernd 300 000 Mitglieder zusammengefunden.“[28]

Literatur

Arendt, Hannah, Die verborgene Tradition, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976

Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem, Reinbek: Rowohlt 1978

Becker, Peter Emil, Wege ins Dritte Reich, Stuttgart/New York: Georg Thieme Verlag 1990

Beitl, Richard u. Klaus, Wörterbuch der deutschen Volkskunde, Stuttgart: Kröner 1974

Brockhaus‘ Konversations-Lexikon, Leipzig/Berlin/Wien 1898

Canetti, Elias, Masse und Macht, Frankfurt a.M.: Fischer 1980

Canetti, Elias, Die Fackel im Ohr, Lebensgeschichte 1921-1931, München/Wien: Hanser 1982

Eisler, Rudolf, Kant-Lexikon, Berlin 1930, Reprint Hildesheim / New York: Georg Olms Vlg. 1979

Neiman, Susan, Das Böse denken – eine andere Geschichte der Philosophie, übers. v. C. Goldmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004

Pfeifer, Wolfgang,  Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin: Akademie-Verlag 1989

Weekley, Ernest, An Etymological Dictionary of Modern English, New York: Dutton 1921


[1] der Rekurs auf den Begriff „Bann“, wie er im Folgenden durchgeführt wird, erhält seine Berechtigung aus einer Notiz, die sich in Arendts Benjamin-Essay befindet. Die dortige, auf das „Benjaminsche Denken“ bezogene Notiz, lässt sich ebenso gut auf das Denken Hannah Arendts beziehen. Text aus „Menschen in finsteren Zeiten“, Essay zu Benjamin, 216, s.u. Anhang

[1] Elias Canetti 1980, 335 – 369

[2] Kant meint: „Der ‚Vernunftursprung‘ des Bösen selbst bleibt uns unerforschlich; wir wissen nicht, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne.“ Eisler 1930/1979, 73

[3] Weekley 1921, s.v. banal, p. 109

[4] Banal bezeichnet den Gemeinplatz, commonplace, “orig. for public use of all under the same ban, or feudal jurisdiction.” Weekley 1921, ebenda; banal als “gemeinsinnig” – “common sense” und “commonplace”, Gemeinsinn (der von Kant bedacht wird und bei Arendt im Konzept des Politischen mitspielt, sind keine individuellen, sondern communitäre, bzw. gesellschaftliche Phänomene. Sie verweisen auf einander, ergeben sich aus sozialer Übereinkunft = Konvention. Im Bann sind sie quasi befehlsmäßig verordnet.

„Gemeinplätze“ bilden sich bei freier Übereinkunft heraus, aber auch unter dem Druck eines Banns kann ein neuer commonplace und common sense zustande kommen (Märkte, Aufmarschplätze, Repräsentationsstätten, Sammlungsorte usw. )

[5] Brockhaus 1898, Bd. 2, 353

[6] Pfeifer 1989, Bd. 1, 121

[7] Eisler 1930/1979, 74

[8] bannen = festmachen, kugelfest machen – das Gerücht, Hitler sei unverwundbar, folgte auf die misslungenen Anschläge auf das Leben des ‚Führers‘. Ähnliche Gerüchte kursierten z.B.  über Wallenstein, Friedrich den Großen und wurden noch 1914 über den greisen General der Kavallerie, Graf Haeseler, verbreitet, vgl. Beitl 1974, 212, s.v. „festmachen“

[9] Canetti 1980, 337 – Sperrungen im Original

[10] der Germanomane Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn Richard Wagners, statuiert 1906 ein „Gesetz des Blutes“. Im Falle der Juden ist dieses Blutgesetz gekoppelt, ja verquickt  mit dem mosaischen Gesetz. Die Juden sind für den  NS-‚Vordenker‘  Chamberlain ein Volk, „an ein fremdes, allen anderen Völkern feindliches Gesetz unlösbar gebunden.“ Chamberlains Hauptwerk, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, konnte 1940 in der 25. Auflage erscheinen, 1941 bereits in der 27., vgl. Becker 1990, Wege II, 184f. u. 226.

[11] im christlichen Konzept des personifizierten Bösen, des Teufels / Satans,  sind Neid und Missgunst, die sich vor allem gegen die Menschheit richten, primäre Triebfedern.

[12] bei der Besprechung der unterschiedlichen Befehlsaspekte kommt Canetti immer wieder darauf zurück: „Der älteste Befehl – und einer, der viel früher erteilt worden ist, als es Menschen gibt – ist ein Todesurteil und zwingt das Opfer zur Flucht. Man wird gut tun, daran zu denken, wenn vom Befehl unter Menschen die Rede ist. Das Todesurteil und seine erbarmungslose Furchtbarkeit schimmert unter jedem Befehl durch.“ Canetti 1980, 336

[13] der durch die Befehlsstruktur und inhärente Lebensbedrohung ausgeübte Bann erstreckt sich – und das ist die anstößige Erkenntnis Hannah Arendts – auf Täter und Opfer: „In der Schaffung von Lebensbedingungen, in denen Gewissen schlechthin nicht mehr ausreicht und das Gute unter keinen Umständen mehr getan werden kann, wird die bewusst organisierte Komplizität aller Menschen an den Verbrechen totalitärer Regime auch auf die Opfer ausgedehnt und damit wirklich ‚total‘ gemacht. Wir wissen aus vielfachen Beschreibungen, bis zu welchem Grade die ‚Konzentrationäre‘ mit in die eigentlichen Verbrechen der SS verwickelt wurden, in dem man ihnen – den Verbrechern, den Politischen, den Juden in den Ghetti und Vernichtungslagern – weite Teile der Verwaltung überließ und sie damit dem nie zu lösenden Konflikt auslieferte, entweder ihre Freunde in den Tod zu schicken oder andere, ihnen zufällig nicht bekannte Menschen ermorden zu helfen.“  Zit. n. „Glaubenssachen“ v. 16.11.2014, www.ndr.de/ndrkultur, aus: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“

[14] Canetti 1980, 338

[15] Canetti 1980, 336f.

[16] nach Canetti eine spezifische Eigentümlichkeit des Befehls, übrigens auch des eindringenden Stachels, vgl. Canetti 1980, 335

[17] Canetti 1980, 338

[18] in „Masse und Macht“ behandelt Canetti die Zusammenhänge und ‚Synergien‘ dieser beiden Größen. Macht, die sich in Menschenmassen zusammenzieht („massiert“), wirkt auf Außenstehende bannend, im Sinne von abschreckend und anziehend zugleich. Aus seinen Frankfurter Jahren (1921-1924) schildert Canetti die erste Erfahrung einer Massendemonstration, „ein ganz besonderes Erlebnis dieser Frankfurter Jahre, ein Erlebnis des Tages, war für mich die Masse (…) Es war die physische Anziehung, die ich nicht vergessen konnte, daß ich so sehr dazugehören wollte, wobei es gar nicht um Überlegungen oder Erwägungen ging und es auch keineswegs Zweifel waren, die mich vom letzten Sprung hinein abhielten. Später, als ich nachgab und mich wirklich in der Masse fand, kam es mir vor, als ginge es hier um etwas, dass in der Physik als Gravitation bekannt ist. Aber eine wirkliche Erklärung für den ganz erstaunlichen Vorgang war das natürlich nicht. Denn weder vorher, isoliert, noch nachher, in der Masse, war man etwas Lebloses, und was mit einem in der Masse geschah, eine völlige Änderung des Bewußtseins, war ebenso einschneidend wie rätselhaft. Ich wollte wissen, was es eigentlich war. Es war ein Rätsel, das mich nicht mehr losließ, es hat mich den besten Teil meines Lebens verfolgt und wenn ich auch schließlich auf einiges gekommen bin, so ist nicht weniger rätselhaft geblieben.“ Canetti 1982, 93f.

[19] die Rückwendung auf Arisches und Germanisches, die zur „Architektur“ der Banndimension wesentlich beigetragen hat, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Zivilisationsbruch, wie wir ihn heute beklagen, mit dem Entwurf eines „Dritten Reiches“ von vornherein gewollt und mit eingeplant war.

[20] „devotio“ entspringt dem Wunsch nach Hingabe und findet sich vor allem in religiösen Erweckungsgemeinden und Sekten, gelegentlich ebenso oder ähnlich in politischen Freiheits- / Befreiungsbewegungen.

[21] in diesem Sinne ist Kants ‚Kategorischer Imperativ‘ ebenfalls Befehl, wobei die ‚Befehlsform‘ in beiden Worten enthalten ist.

[22] „Soll und Haben“ ist bekanntlich der Titel des großen Geschichtswerks, in dem die altdeutsche Vergangenheit romanhaft dargestellt wird. Der Autor, Gustav Freytag, zeigt an einigen Stellen unverhohlen seine Abneigung gegenüber dem Judentum.

[23] zu erinnern wäre hier an die zähmende Funktion, die dem ‚Stachelstab, griech. kéntron, beim Lenken und Leiten des Viehs zufiel. Von daher die Wendung „wider den Stachel löcken“.

[24] Neiman 2004, 442

[25] Neiman 2004, 439

[26] Befehl, schreibt Canetti, hält die Masse in der gleichen, in einer einheitlichen „Gesinnung“, vgl. Canetti 1980, 343.

[27] in diesem Zusammenhang wäre zu fragen, ob Charakteristika eines Banns nicht bereits in der Arbeit zu finden sind. Arendt hat auf den aktuellen Zwangszusammenhang von Konsumtion und Arbeit hingewiesen. Darüber hinaus haben heutzutage Ökonomismus, Effektivitätsdenken (und die daraus abgeleiteten „Sachzwänge“)  offenbar Bannqualität. Auf einem noch fundamentaleren Niveau sind ein Denken in Strafe und Lohn, ja sogar der Äquivalententausch Prinzipien, die eine bannende Herrschaft ausüben, gegen die etwa der jesuanische Einsatz für „actes gratuits“ wenig vermocht hat.

[28] Becker 1990, Bd. II: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke, 92f.

Anhang :

„Wenn man zum Beispiel … den abstrakten Begriff der Vernunft auf seinen Ursprung aus dem Verb ‚vernehmen‘ zurückführt, so kann man meinen, einem Wort aus der Sphäre des Überbaus einen sinnlichen Unterbau zurückgegeben zu haben; man hat auf jeden Fall einen Begriff in eine Metapher verwandelt. Dabei muß man natürlich die Metapher in ihrem ursprünglichen, nicht-allegorischen Sinne von ‚metapherein‘, herübertragen, verstehen. Denn die Metapher stellt einen Zusammenhang, eine Entsprechung her, die unmittelbar sinnlich einleuchtet und keiner Deutung bedarf (…) eit Homer ist die Metapher das eigentlich Erkenntnis vermittelnde Element des Dichterischen(…) Was an Benjamin so schwer zu verstehen war, ist, daß er, ohne ein Dichter zu sein, dichterisch dachte und daß die Metapher daher für ihn das größte und geheimnisvollste Geschenk der prache sein mußte, weil sie in der ‚Übertragung‘ es möglich macht, das Unsichtbare zu versinnlichen – ‚eine feste Burg ist unser Gott‘ – und so erfahrbar zu machen.

aus Hannah Arendt, „Menschen in finsteren Zeiten“, Hg. U. Ludz, München: Piper 2013, 216f.

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