der Fall Satan

Die Jünger, die Jesus paarweise ausgesandt hat, um die Botschaft vom nahenden Reich der Himmel zu verbreiten, durch Wort und Tat, kehren zu ihrem Meister zurück. Sie triumphieren. Nicht nur die Menschen haben auf sie gehört, auch die Dämonen haben sich unterworfen oder von ihnen überwinden lassen. Jesus jubelt mit ihnen. Nun sind aus den vormaligen Jüngern oder Lehrlingen Apostel geworden, Vertreter und Verfechter des Gottesreiches, dessen Prokuristen.

In dieser Jubelstunde versichert und bestärkt sie ihr Rabbi. Zu der bereits verliehenen Befugnis fügt er weitere Vollmachten hinzu, um gleichzeitig aber den entscheidenden Punkt zu betonen, dass ihre Namen „eingeschrieben sind in den Himmeln“, Lukas 10, 20. Dies soll ihnen den eigentlichen Grund zur Freude geben, und nicht der Erfolg, den sie unter den Menschen und über die Geister errungen haben.

Unmittelbar nach der Rückkehr der Ausgesandten, nach ihrer freudigen Berichterstattung und Bewährung als Apostel, macht Jesus eine Aussage, die heute dringend einer Deutung bedarf:

Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallend“, Luk. 10, 18.

Was hat es mit dem von Jesus beobachteten Ereignis auf sich?

Und zunächst einmal: auf wann, auf welchen Zeitpunkt ist dieses Geschehen zu datieren?

Jesus sagt nicht: ich habe gesehen, um die Einmaligkeit dieses Falles zu unterstreichen. Es wird weder in eine kürzlich passierte Vergangenheit verlegt, noch als prophetische Schau ausgewiesen, womit es einer künftigen Zeit angehören und dieser vorbehalten wäre.

Ich sah“ ist der grammatikalischen Form nach Imperfekt, was auch im Griechischen eine andauernde Handlung bezeichnen würde.
Dazu passt die Verlaufsform „fallend“. Der Satan ist sozusagen noch nicht wirklich aus dem Himmel entfernt, sondern ist im Begriff, zu fallen.
Er ist auch noch nicht auf der Erde oder in der Erde angekommen, sondern ‚im Begriff‘.

Ein weiteres wichtiges Detail, das hier verbal, durch den Vorgang des Sehens, bezeugt wird: die Form etheóroun = ich sah, hat nicht nur Jesus zum Subjekt. Darin steckt auch die dritte Person im Plural: sie haben gesehen. Ein Verweis auf eine unbekannte Augenzeugenschaft. Im Deutschen heißt es dafür man, man sah den Satan aus dem Himmel fallend. Sind darunter himmlische oder irdische Augenzeugen und Zeitzeugen zu verstehen, Engel und/oder vielleicht mit Hellsicht begabte Menschen, prophetische Visionäre in Vergangenheit und Zukunft?

Der Vergleich mit einem Blitz legt ein sehr plötzliches und kurzdauerndes („perfektes“) Ereignis nahe, das sich damit in einen merkwürdigen Kontrast begibt zur imperfekten Ausdrucksweise, derer sich Jesus bedient. Ein Blitz ist im Nu abgeschlossen. Es blitzt auf und ist sogleich wieder weg, verschwunden, schier im gleichen Augenblick. Eine Erleuchtung. Doch deutet eben diese Vergleichbarkeit des Blitzes mit einer Erleuchtung auf nachhaltige und andauernde Wirkung hin. Eine Erleuchtung erlischt nicht, sondern währt lebenslänglich. So mag es sich auch mit dem Satansfall verhalten: er vollzieht sich, ist im Vollzug und ohne Abschluss, ein sowohl momentanes wie fortwährendes, alle in der Zeit aufscheinenden Augenblicke durchlaufendes oder übergreifendes Geschehen: sie sahen – da bezieht sich der Plural auf künftige Geschlechter und Generationen, bzw. auf die darunter befindlichen, mit einer spezifischen Hellsicht ausgestatteten Einzelnen. Zeugen des Ereignisses sind, wie Jesus gleich im Anschluss ausführt, nicht die Weisen und Klugen, sondern die nepíoi. Luk. 10, 21. Was für eine Gruppe oder Sorte Menschen ist das? Es sind die Unmündigen, die Kinder, die kindlichen Gemüter, die Einfältigen, die Simpel. Es sind jene, von denen es woanders heißt, Gott hat sich aus den Unmündigen, von den Unmündigen her ein Lob bereitet.[1]

Der „Fall Satan“ hat in Theologie und Malerei ein starkes, ein volltönendes Echo gefunden. Dabei ist in das Ereignis, das Jesus in Worten schildert, das apokalyptische, das endzeitliche Drama eingeflossen, das den Erzengel Michael mit dem Fall Satans in Verbindung bringt.
Sind das unterschiedliche Ereignisse oder handelt es sich um ein und dasselbe Geschehen, in differente zeitliche Perspektiven eingesetzt?

Der Darstellung, die Jesus gibt, lässt auf ein – wodurch auch immer begründetes – Fallen schließen.
Vielleicht stürzt sich Satan herab, wie im Mythos die Sphinx.
Es ist nicht die Rede davon, dass er herabgestoßen oder aus der Höhe verstoßen wird.
Zu Beginn des Buchs Hiob hören wir, wie Satan, zum Hofstaat Gottes gehörig, im Himmel ein- und ausgeht. Es scheint seit jeher so gewesen zu sein, dass er in beiden Dimensionen, in der unteren wie der oberen, unterwegs ist. Er ist nirgends zuhause, so lässt jedenfalls die Stelle bei Hiob durchblicken, sondern schweift umher, ein Streuner, ein Stromer, dem man böse Absichten unterstellen kann, aber auch Neugier, Lust auf Erfahrung. Jedenfalls gehört eine gewisse Unstetigkeit zu seinem Naturell. Doch scheint der Fall, den Jesus bemerkt hat, aus den üblichen Exkursionen dieses ambitendenten Wesens buchstäblich herauszufallen. Was Jesus sieht, ist eine beschleunigte Gangart, eine, die offensichtlich herausfällt aus Satans üblichem, mehr oder weniger ziel- und rastlosen Umherschweifen. Eine Art der Fortbewegung, die im hebräischen Text an den Namen des „Widersachers“ anklingt und durchaus geeignet scheint, ihn als solchen zu charakterisieren.[2]

Auch hier begegnen wir einer seltsamen Unentscheidbarkeit: fällt Satan? wird er hinabgestoßen? stürzt er sich selbst auf die Erde? Dass Satan, freiwillig oder unfreiwillig, den Himmel verlässt, scheint klar. Aber kommt er überhaupt auf der Erde an?
Das ist keine bloß rhetorische oder spitzfindige Frage. Im Gegenteil: in Anbetracht dessen, dass die Erde „erfüllt ist mit göttlicher Glorie“, wie uns biblisch wiederholt versichert wird, scheint es höchst zweifelhaft, dass Satan hier eine dauerhafte Wohnstatt und Bleibe, ein akzeptables und ihm genehmes Exil oder Asyl gefunden hat oder haben könnte.

Es bleibt also dabei: Satan ist weiterhin, wenn auch „fallend“, stark beschleunigt wie ein Blitz, aber auch aufstrahlend und schlagend wie ein Blitz unterwegs. Das sollte man nicht vergessen, die satanische Ambivalenz, die in diesem Fall durchaus ungemindert fortdauert.

Von einem besiegten Satan zu sprechen ist, jedenfalls allein auf Grund des Zeugnisses, das Jesus gibt, eine fromme Selbsttäuschung. Ja, nein, sie ist, genau besehen, ebenso unfromm wie die totale Verteufelung und vorzeitige Verdammung dieses Wesens.

Die jüdische Tradition hat Satan mit dem, aller Kreatur einwohnenden „bösen Trieb“ identifiziert. Eine Kraft, von der es heißt, dass sie zum Hausbau, zum Kinderzeugen, zum Abwickeln der täglichen und alltäglichen Geschäfte unverzichtbar sei. Eine Kraft, mit der wir leben (lernen) müssen, die nicht nur im Himmel, sondern auch in uns und unter uns munter aus- und eingeht. Seit Jesus, möchte man hinzusetzen, vielleicht nicht mehr so gemächlich, sondern bestimmter, beschleunigter, erdwärts, Richtung Materie, also in einer ersichtlich gerichteten Tendenz.

Das Thema „Fall Satan(s)“ regt zu einem Exkurs an, wozu wiederum jüdische Überlieferung Anstoß und Schlüssel liefert. Es wird erzählt, dass im Himmel ein Streit entstand, in den die Wahrheit verwickelt war. Das war, als der Beschluss gefasst wurde, Menschheit zu erschaffen. Die Wahrheit, darüber befragt, gab weinend die Auskunft, damit werde auf der Erde der „Vater der Lüge“ erschaffen. Barmherzigkeit hingegen sprach sich für die Erschaffung des Menschen aus, aber Wahrheit riet ab.
Mit dem Erfolg, dass Gott sie auf die Erde versetzte. Auch sie ist dort, dem Vernehmen nach, nicht bleibend zu Hause. Denn wie könnte man im Himmel ohne sie auskommen? So ist ein Kompromiss zustande gekommen, der ihr gestattet, von der Erde zum Himmel und vom Himmel zur Erde in beständigem Wechsel auf und ab zu fliegen.[3]

Es gibt diesen Bericht vom Gang, Fall oder Sturz der Wahrheit zur Erde (hin) in unterschiedlichen Versionen.[4] Auch hier bleibt offen: geht Wahrheit freiwillig oderunfreiwillig?

Ihr Gang sieht fast nach einem Opfer aus. Die älteren Versionen beharren darauf, dass die Wahrheit unsanft hinabgeworfen wurde: „Was tat der Herr? Er nahm die Wahrheit und warf sie auf die Erde. Sprachen die Heerscharen: O Herr der Welten! Dies Wahrzeichen dein, warum erniedrigst du es? Es möge die Wahrheit wieder emporsteigen.“[5] Doch bleibt offen, ob Gott, der in der geschilderten Situation die Schöpfung des Menschen übrigens souverän und im Alleingang verfügt, gleichsam als Chefsache und in höchst persönlicher Verantwortung, der Bitte seines Hofstaates nachkommt und dieses Hin und Her, Auf und Ab der Wahrheit zwischen Himmel und Erde gestattet.

Der Umstand, dass von der Wahrheit eine ähnliche Geschichte erzählt wird wie von Satan ist nicht ohne Pikanterie und gibt auf jeden Fall zu denken.
Und ist es nicht in der Tat so, dass Wahrheit in ähnlicher Weise geeignet ist, widerständig zu sein und Verwirrung zu stiften (wie Satan als Diabolus, als Durcheinanderbringer), geneigt, zu beunruhigen, aufzuwühlen, in alle erdenklichen Leidenschaften zu schlüpfen?

Wahrheit ist übrigens eine Qualität, die immer neu bedacht werden muss. Sie bezeichnet keinen Sachverhalt, keine „Stimmigkeit“, sondern einen Prozess.[6] Heidegger kennzeichnet sie daher als entdeckend. Sie ist kein jemals Entdecktes, sondern entdeckend.[7] Wahrheit begegnet, ja entgegnet immer wieder höchst unliebsam und in aller Härte. Sie lässt sich so wenig verorten und festmachen, wie sich dies Gott sei’s geklagt – auch von Satan behaupten lässt. So sind beide zwischen Oben und Unten und im Unten und Oben, im Außen und Innen unterwegs und nichts kann hindern, dass sich ihre Pfade zuweilen kreuzen, überschneiden, tangieren, um nicht zu behaupten: wechselseitig tingieren.

Noch ein Wort zur Beteiligung des Erzengels Michael am Fall Satans. Sie geht auf Offenbarung 12, 7 zurück und ist in späteren Schriften des Christentums in unterschiedlicher Ausschmückung zu finden. Das heißt, die Vereindeutigung des Falls, die ihn zum unfreiwilligen Absturz macht, zum Engelssturz, einem Thema, das die Maler gerne aufgenommen haben, verdankt sich späterer Tradition mit einer eindeutig dualistischen Tendenz. Sie liefert den Beweis für die Wirksamkeit eines hell/dunkel-Denkens, einer Spaltung der Welt in unvereinbare Gegensätze und nährt eine Weltauffassung, die bis heute unterschwellig fortdauert.Es handelt sich dabei um eine im Grunde lebensfeindliche und erfahrungsscheue Ideologie, in der eine Hälfte der Welt in Finsternis gehalten und die andere durch verklärende Idealisierung ebenso verfälscht wie überbelichtet erscheint.


[1] vgl. auch Matthäus 11, 25, Sprüche 1, 32

[2] vgl. dazu Hiob 1, 7f.

[3] nach Rabboth 8a, vgl. z.B. Guiseppe Levi, Das Buch der jüdischen Weisheit, 11

[4] siehe z.B. Josef bin Gorion, Die Sagen der Juden, 2. Buch, Nr. 3, „Die Barmherzigkeit und die Wahrheit“.

[5] ebenda

[6] der „Fall Satan“ ist in der Schilderung Jesu ebenfalls prozessual, „fallend“. Das gerichtliche Verfahren, der Prozess im engeren Sinne, ist keineswegs abgeschlossen, das Urteil über Satan noch nicht gefällt. Vielleicht hat Origenes Recht mit seiner Annahme, am Weltende fände eine vollkommene Wiederherstellung, eine Restitution der Schöpfung in ihren ursprünglichen Zustand statt, eine Art Reset (griech. apokatástasis). Dies schließt eine Rehabilitation des Satans mit ein, die Reintegration der durch ihn personifizierten Schöpfungskraft ins Ganze der Schöpfung.

[7] auch hier wieder eine Erinnerung an Satan im Buch Hiob als einem, der – nach seinen eigenen Worten – die Erde/Materie ‚durchforscht‘, der es, wie der Wahrheitssucher Faust, wissen will (und daher in Mephisto, dem Repräsentanten Satans, einen effektiven Verbündeten sieht).

1 Antwort zu der Fall Satan

  1. Nichtsnus sagt:

    „Ein Blitz ist im Nu abgeschlossen.“

    Meine Meinung ist, es gibt nichts anderes als nur das Nu, den Augenblick. Es handelt sich dabei um einen Gedankenblitz. Es blitzt und alles was existiert flammt für einen Augenblick auf und kommt dadurch ins Leben, und gäbe es von den Gedankenblitzen nicht unendlich viele, wäre alles nichts. Aus Nichts ist alles geworden, und der erste Blitz war ein Gedanke. Wer dachte ihn? Niemand, denn das Nichts braucht nicht erdacht zu werden, da es ja nicht existiert. So werde dir bewußt, auch du existierst gar nicht. Begreifst du das, dann bist du ein Nus. Begreifst du es nicht, dann bist du ein Nichts. Schöne Grüße von Mr. o00.

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