Alte Photographien*

Photographien gehören, wie der etwas altertümlichen Name besagt, dem Reich der Lichtbilder an. Sie sind vom Licht, von seinen zurückfallenden Strahlen geschrieben wie mit abertausend gleichzeitigen Griffeln, ins Korn der Körnung gebracht, Punkt für Punkt aus den Spitzen dieser luminosen Federkiele sickernd. Das ist ein außerordentliches Wunder, das bis jetzt noch kein elektronischer Bildschirm zu solcher Vollendung gebracht hat.
So findet man heute noch unter hauchdünnen Gelatineschichten die Kinderbilder unserer Urgroßeltern auf dickem Karton in ocker- und asphaltfarbenen Schattierungen. Die Schleifen und Blumen sind bis in den Hintergrund sorgsam arrangiert. Man liebte herrschaftliche Freitreppenaufgänge, während die Dienstboten verstohlen hinter einem seitlichen Fenster hervorlugten. Jedoch finden sich noch häufiger künstliche Landschaften im Hintergrund wieder. Sie bilden den festen Bestandteil der kunst – und hofphotographischen Ateliers, illusionierende Requisiten wie der schlafende Spitz auf dem ausgebreiteten Fell, der seitlich schwer und faltenreich herabwallende Samtvorhang, das Beistelltischchen mit den rankenden Beinen, dessen Fläche ein durchbrochenes Häkelwerk bedeckt, natürlich auch die klassizistische Säule als Gipsbüstenträger eines unserer großen Geister und gelegentlich auch der altertümliche Stuhl mit den verschlungenen Tierleibern und gedrechselten Häuptern, die vorne aus dem Knick der Armlehnen ins geheimnisvolle Dunkel der Balgkamera schnappen.
Sofern es sich um Porträts handelt, befinden sich die Personen häufig in ein ovales Medaillon versetzt. In manchen photographischen Werkstätten scheute man nicht vor der Mühe zurück, die in diesem Oval eingeschlossene Person im ganzen halbreliefartig herauszuarbeiten. So erinnern sie nun an Gemmen, aus Konvexspiegeln geschnitten. Manchenorts verzichtete man auf eine strenge Kontur des Medaillons und löste es zum Bildrand hin auf, ließ es in Dunst und kupferfarbenen Wolken zerfließen. Manchmal ist das Eirund nur als Schatten angedeutet, dann wieder aus mehreren Schatten bestehend, die flächig in den Bildraum hinein gestapelt oder versetzt sind. Sie machen den Eindruck von dunklen Auren oder schattenhaft gewundenen Kränzen, mit denen die inzwischen samt und sonders Verstorbenen sich schon zu Lebzeiten umflechten ließen.

Auf den mittelalterlichen Tafelbildern, die der reiche Bürger für den Patronatsheiligen seiner Stadt oder seiner Familie anfertigen ließ, erscheint mitunter er selbst mit den Seinen zu Füßen des Heiligen, meist winzig klein, oft kaum über den Mantelsaum reichend.
Ein Kenner der photographischen Kunst und ihrer Meister in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende könnte vielleicht aus dem Stil der Arrangements auf das jeweilige Atelier schließen. Eines verrät sich zum Beispiel durch einen höchst eigentümlichen mäandernden Fries. In einem anderen bevorzugte man ganz bestimmte Blumengestecke oder eine verblüffende Marmorierung des aufgetünchten Marmorgetäfels im Hintergrund. Gerne steckte man den Porträtierten in Saffianleder gebundene Bibeln oder Gesangsbücher in die Hände. Seltener ein kleines Seidentuch oder eine unauffällige Schnittrose aus dem Teegarten oder aus Krepppapier. Dies alles und viele weitere Kleinigkeiten sind typische Stilmerkmale, aus denen hervorgeht, ob man in New York oder London, in Dresden oder Hermannsburg abgebildet worden ist. Aber sie machen den kühnen Namenszug der ausführenden Firma auf dem unteren Bildrand, gedruckt, geprägt, graviert (seltener auf der Bildrückseite) offenbar durchaus nicht überflüssig. Prangend zeigt er den vollen Namen des Lichtmeisters an, samt kurzer oder ausführlicher Anschrift, das ganze in der Art einer beiläufigen Visitenkarte.
Es gab eine Zeit, in der vererbten sich die Portraitaufnahmen der Kinder in melancholischer südlicher Landschaft, Zypressen und heilige Haine, wie Böcklin sie gesehen hat, aber auch Worpsweder Heidestücke, mit weißen fleckigen Birken durchsetzt. Der hellgrüne Durchschein ihrer kleinen, den Umriss des Herzens unendlich variierenden Blätter spielt auf den Stirnen der kleinen Erwachsenen. Sie gingen von einer Generation auf die nächste, so dass die Enkel und Urenkel immer weiter zurückblättern konnten in diesen merkwürdigen Galerien ihrer kindlichen Ahnen mit den eigentümlich unschuldigen Gesichtern und lammfrommem Ausdruck in den Mienen, den man nicht nur auf das sorgfältig gebürstete oder aufgeflochtene Haar, auf das glatt gestrichene Kleidchen oder den gebügelten Matrosenanzug zurückführen mag. Da waren gewiss noch die ernsten Späße des Fotografen, eine gewisse Ehrerbietung gegenüber der sonntäglich gekleideten Kundschaft, fremde Gerüche, die aus entfernten Laborräumen, aus den Wannen mit Entwickler, Essigsäure und gelösten Fixiersalzen herübergedrungen sein mochten. Nicht Angst wie beim Arztbesuch, eher eine Mischung aus Ehrfurcht und Beklommenheit war es, die sich in den kleinen Gemütern festgemacht und in ihrer Ausbreitung jenen artigen, alle kindliche Wildheit zuhängenden Anschein hervorgebracht hatte.

Die Bilder: es gab besondere Alben dafür, Steckalben mit Seiten aus dickem Karton und darin eingeschnittenen Fenstern, eckig, bogig und rund. Zum Teil prächtig gearbeitete Bände aus ziseliertem Leder, vorne mit einer gehämmerten und versilberten Schnalle verschließbar. In diesen wunderbaren Büchern wanderten die kindlichen Urahnen durch die Generationen der Backsteingotik und der Reichskolonien, durch Gründerjahre, Vaterlandskrisen und Krieg. Die vielen feuchten Finger, die auf die Bildschicht getupft und darüber hingefahren waren, hatten auf den Gesichtern ihre Spuren hinterlassen und aus dem metallischen Dunkel der Auren eine ungewisse Helligkeit gezaubert. So kamen sie, teils noch in ihren Alben, teils lose in Kästen und Kartons umgepackt, in den distributiven Sog unserer jetzigen Zeit. Von dort, und nicht aus der Reihe der eigenen Ahnen, wie verflochten auch immer diese in den Lebenswelten und Erfahrungen der anderen gewesen sein mag, von dort habe auch ich meine Bilder, die Bilder von jugendlichen Geschwistern und Brautpaaren, von Kleinkindern, in uferlosen Lammfellen ausgesetzt. Aber auch richtige Kämpfer, Helden unter der Drachenhaut. Die letzten Tage von Langemarck, der rückseitig gekritzelte Gruß aus dem Graben. Zerrissene Häuser, zerrissene Straßen, detonierte Pferdebäuche. Dann der Heimaturlaub, festgehalten in der fotografischen Anstalt Alfred Richter, Radebeul. Statt der vorigen Pickelhaube eine Uniformmütze aus Stoff, die rechte Hand verlegen und linkisch ans Koppel gelegt. Im Wolkenduster des gemalten Himmels, der sich hinter den Schultern auftut, liegt eine Sphinx und blickt, den Hinterleib in dem sich türmenden Gewölke verborgen, über die Ränder des Bildes, über die Enden seines Himmels hinaus, rätselhaft spöttisch und streng.
Mit der wilhelminischen Ära ging in Deutschland auch eine Epoche des Lichtbilds zu Ende. In den Ateliers verschwanden die gemalten Hintergründe. Die Samt- und Taftvorhänge wurden abgenommen. Die Photographen gingen nach draußen. Die illusionären Ateliers des alten Stils wurden ihrer Kundschaft entvölkert, die nun den Photographen in die eigenen Wohnräume und zu großen Familienfestlichkeiten bestellte. Aus den Hofphotographen wurden Hausfotografen. Und mehr und mehr warfen sich Zeitungsleute, Berichterstatter und Dokumentatoren aus den Feldern der Wissenschaft und des Experiments in die Praxis des Fotografierens. Doch auch die Zahl der Privatleute, die sich eine Kamera leisten und damit umgehen konnten, nahm ständig zu. Es wurde auch immer einfacher, damit umzugehen, nachdem das Zelluloid die umständlichen und auf Reisen oft beschwerlichen Glasplatten als Bildträger abgelöst hatte. Nun ging alles rascher von der Hand: da bedurfte es bei heller Beleuchtung keines Stativs mehr. Die Filme wurden immer empfindlicher, „High Speed“, wie es im Amerikanischen heißt. Auch das „film processsing“, das Entwickeln, Fixieren, Wässern wurde mehr und mehr vereinfacht, so dass es auch von Laien im häuslichen Labor durchgeführt werden konnte. Aus der Kunst, mit Licht zu zeichnen oder zu tuschen, wuchs die beschleunigte Technik eines raschen optischen Zugriffes. Und die Tinten, die das Farbbild ausbreitet, überschwemmten ein im Dämmer seine Anfänge verblassendes, bromsilbernes und in schwärzlichem Gold getontes Bilderlichtreich.

*) geschrieben 17.12.1986, korrigiert Juni 2020