Es sind häufig dieselben Erscheinungen, auf die manchmal mit Verwunderung, manchmal mit Verwirrung reagiert wird. Es gibt dafür einen recht treffenden, aber ungebräuchlich gewordenen Ausdruck: perplex.
„Da bin ich / da bist du aber perplex“, war früher häufig zu hören.
Im Lateinischen bezeichnet perplex eine Sache, die verschlungen, verflochten, verworren und daher eben unverständlich vor- und daherkommt. Oftmals eine Täuschung, indem sich in der Wahrnehmung lediglich der äußere Anschein auf den Betrachter überträgt. Das, was in Verwirrung bringt, braucht dabei keineswegs verworren sein, im Sinne von strukturlos.
Man denke an die Knotenschrift der Inka oder stelle sich das Gewirr der Fäden auf der Unterseite eines Webteppichs vor und wie sie dann auf der Oberseite ordentliche Muster, Ornamente, Figuren ergeben.
Jedem Erstaunen ist eine Prise Erschrecken beigemengt. Umgekehrt enthält jeder Schrecken ein Moment, das sich in reines Staunen rückverwandeln lässt. Das macht das Irregehen, das sich Verirren zum Abenteuer, also zu einem Vorgang oder Ereignis, in dem Lust und Unlust in ein spannungsreiches Wechselspiel treten.
Es gibt Personen, die auf Unerwartetes, auf unvermutet eintretendes Geschehen mit Schwindel reagieren. Eine jähe Öffnung, eine auf einmal aufklaffende Höhe, Tiefe oder Weite, sei sie nun zeitlicher oder räumlicher Natur, löst schwindelartige Anfälle aus. Seinem Wesen nach ist Schwindel physisch und psychisch zugleich, also ein Symptom, das Leib und Seele in ihrem Auseinandertreten auf paradoxe Weise zusammenhält.
Als psychosomatische Reaktion zählt Schwindel unter die Symptome, deren komplexe Qualität, Herkunft und Bedeutung bis heute weitgehend ungeklärt geblieben ist. Im Unterschied etwa zum Schmerz mit seiner Warnfunktion ist die Funktion des Schwindels ein Rätsel. Er bringt dazu, dass man sich hinlegt, in eine Art Ruhezustand versetzt. Aber das allein ist es nicht, das allein kann es nicht sein.
Im Labyrinth hat das Irregehen sein ebenso universales wie abgründiges Symbol gefunden. Man könnte sagen: im Labyrinth findet das Irren und Wirren zu sich selbst, mehr und vollkommener als irgendwo sonst.
Labyrinth ist kein Ort, sondern eine Vorstellung, die sich räumlich gibt, in der Zeit räumlich, um im Raum als zeitliche Extension zu erscheinen. Labyrinth ist Ausdehnung, Dimension in vielfacher und vielfältiger Hinsicht, gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Komplexität.
Wie himmelwärts reichende Berggipfel oder die Abgründe, über denen sich der Ozean breitet, so gibt auch das Labyrinth Gelegenheit zu „sublimen“ Erfahrungen. Seit der Entdeckung der Alpinlandschaft im 18. Jahrhundert steht die ästhetische Qualität des Sublimen also eines (Natur-) Phänomens, das menschliches Fassungsvermögen überschreitet, außer Frage. Es tritt in die Fußstapfen religiöser oder spiritueller Erfahrung, bzw. setzt diese fort.
Es liest sich als Begegnung mit einer transzendenten oder metaphysischen Dimension, die sich der Alltagserfahrung und erst recht aller Gewohnheit und Routine strikte entzieht.
Die Konfrontation mit dieser immer wieder unbekannten, entzogenen oder entrückten Sphäre, die das Sublime ausmacht, ist keineswegs bloß lustvoll, sondern gekennzeichnet durch eine innere Gegensatzspannung, durch einen heftigen Antagonismus, der auf das erlebende Subjekt übergreift und dieses in einen Zustand höchster Spannung und Erregtheit versetzt.
Die Suche nach Nervenkitzel und Kick ist im Grunde ausgerichtet auf Sublimerfahrung, greift bloß zu kurz und verfehlt infolge einer Art Ungeduld, infolge eines zu kurz gehaltenen Anlaufs den Sprung über die Kluft auf die Seite genau gegenüber.
Im Labyrinth lassen sich zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen oder Suchbewegungen erkennen. Bei der einen geht es darum, einen Ausgang aus dem System der Irrwege zu finden. Bei der anderen ist man bestrebt, einen Zugang ins Zentrum zu bekommen, um dort den vermeintlichen Grund und Anfang von allem zu erlangen, das „Prinzip“ des Ganzen einzuholen.
Es könnte sein, dass bei beiden Bestrebungen derselbe Antrieb wirksam ist, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, wie konvex und konkav, oder wie Innerstes und Äußerstes einander entsprechen bei aller Gegensätzlichkeit. Les extrèmes se touchent, die sprichwörtliche Coincidentia oppositorum.
Im Englischen gibt das Verb to puzzle sehr schön das Verdutztsein wieder, das einsetzt bei der Begegnung mit Unvorhergesehenem und Unerwarteten. Ein Puzzle ist zunächst something that perplexes or embarrasses[1]. Im heutigen Sprachgebrauch kennen wir Puzzle als ein Gedulds- oder Vexierspiel, bei dem Teile zu einem Ganzen zusammengefügt werden.
Dann bezeichnet es aber auch the state or condition of being puzzled; perplexity.[2]
Die Herkunft dieses englischen Wortes ist unklar. Meistens wird es aus opposal abgeleitet, würde sich dann auf das Moment der Konfrontation beziehen, durch das eine Verwirrung ausgelöst werden kann.
Im Puzzlespiel geht es darum, Bruchstücke zu einem sinnvollen Ganzen zu organisieren. Im Puzzle als Spiel ist die Organisationsform vorgegeben, in all den Puzzles und Mosaiken, mit denen wir es in Wirklichkeit zu tun haben, gibt es keine derartige Vorgaben oder Zielsetzungen. Die Fragmente sind oft völlig disparat. Es liegt kein Plan vor, keine konforme Form oder Gestalt, nach der – oder auf die hin – organisiert werden könnte.
In der Kunst spielt das Fragmentarische seit jeher eine große Rolle. Historisch sind Torso und Ruine z.B. solche Bruchstücke, die in der künstlerischen Gestaltung nicht bloß als Bausteine vorkamen, sondern zu völlig neuen Schöpfungen angeregt haben. Trümmerstücke und Scherben haben gelegentlich kräftigere Eingebungen bewirkt, als die Begegnung mit perfekten und abgerundeten Werken. In künstlerischer Theorie und Praxis, etwa bei Benjamin, Rilke, Novalis, Schlegel und Nietzsche, ist immer wieder aufmerksam gemacht worden auf das Fragment als Quelle von Inspiration und kreativer Phantasie.
Da es sich so verhält, dass Bruchstücke zu Anstößen und Initialen schöpferischer Prozesse werden können, liegt bereits in der Auffindung , aber auch in der Herstellung von Fragmenten, also im Fragmentieren eine produktive Qualität und Potenz. Ergänzen und Fragmentieren gehören zusammen.
Diese Komplementarität von Zersplittern, Zertrümmern, Zerstören und Zusammenfügen, Ergänzen zeigt sich besonders augenscheinlich in der Technik der Collage, die hier in der Nachfolge der antiken Mosaiken steht.
[1] Webster, Complete English Dictionary
[2] ebenda