Spiele in Leviathan*
*) erstmals veröffentlicht in: Manfred Bauschulte/Volkhard Krech/Hilge Landwehr (Hgg.)
„Wege – Bilder – Spiele“, Festschrift für Jürgen Frese, Bielefeld: Aisthesis Verlag 1999
Vorspruch: „Ein großes Licht im Meer“
“Rabbi Eliezer (um 90) und Rabbi Jehoschua (um 90) waren einmal zu Schiff gegangen. Rabbi Eliezer schlief und Rabbi Jehoschua war wach. Rabbi Jehoschua fuhr zusammen, so daß Rabbi Eliezer aufwachte. Dieser sprach zu ihm: was ist das, Jehoschua, warum fuhrst du zusammen? Er antwortete ihm: Ein großes Licht habe ich im Meer gesehen. Er sprach zu ihm: Vielleicht hast du die Augen des Livjathan gesehen; denn es heißt (Hiob 41,10): Seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte.“ (Talmudtraktat Baba bathra 74b, zit. n. Strack-Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. München 1956. Bd. 4/2, 1160)
Die im kleinsten erstrahlende Zeit. Ein Lichtpunkt. Lichtpunkte, die das Wasser bedecken, tiefe Nacht.
Eine Sonne, die sich nicht sehen kann. Sie wirft sich ins Wasser.
Die auseinanderstiebenden hellen und gerundeten Körper. Ein Meteoritenregen. Unsere Hirnströme in eigener Gestalt. Dann taucht alles in seine Geschäfte zurück, lauter im kleinsten erstrahlende Stunden.
Zur Sache:
Einige Spuren in diesem Beitrag lassen sich bis in die “Prozesse im Handlungsfeld“ zurückverfolgen.
Dort erste Andeutungen/Anstöße für eine gründliche, irgendwann später erfolgende Auseinandersetzung mit “Spiel“:
· die schwerwiegende Vermutung, daß “der Mensch im Spiel eher Mensch ist als in ‘ernsthaften’ Operationen.“ (Jürgen Frese, Prozesseim Handlungsfeld. München 1985. 115)
· Überlegungen zur Freiheit im Spiel: “Nicht das Spiel ist frei, sondern die Spieler sind frei, Spieler zu sein oder nicht.“ (a.a.O., 116)
· Und der Schluß: “Im Spiel ist die reine Prozessualität des Handelns .. unmittelbarer anschaubar als in den vielfach mit anderen Prozessen und Systemen verflochtenen ‘ernsten’ Handlungsformen.“ (a.a.O. 117)
· Und: “Spiel kann daher analysiert werden als Extremphänomen, in dem allgemeine Wesenseigenschaften von Prozeß überhaupt relativ isoliert und rein zu Tage treten.“(ebda.)
Damals, in “Prozesse im Handlungsfeld“, hat der Autor die gebotene “Analyse-Chance .. ungenutzt“ gelassen, um sich statt dessen auf die Untersuchung des “Extremphänomens Flucht“ zu verlegen. Erst später, spätestens im Zusammenhang mit dem Seminar, das für diese Festschrift Pate steht, hat Jürgen Frese die damals unterbrochene Beschäftigung mit “Spiel“ wieder aufgenommen.
Um den Versuch, ’Prozessualität’ sichtbar zu machen (oder spürbar, nachspürbar), geht es vermutlich in manchem der freundschaftlichen und kollegialen Beiträge für Jürgen Frese.
Einen Aspekt des Welt- oder Universalprozesses, in die Spielmetapher gebracht (zugleich ins Mythische ver- oder entrückt), scheint der 104. Psalm – einigermaßen beiläufig – in einem seiner Verse andeuten zu wollen.
Da ist die Rede von Leviathan als Schauplatz oder Austragungsort eines sehr eigentümlichen, irgendwie zwischen Lust und Spiel sich bewegenden Geschehens:
Das Meer da, groß, breit zuhanden,
ein Gerege ist dort ohne Zahl,
kleine Tiere mit großen, –
dort, wo sich Schiffe ergehen,
ist der Lindwurm (= Leviathan), den du bildetest, darin zu spielen. (Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Heidelberg 1970. Bd. 4, 153)
Liwjatan, den du gebildet, sich darin zu tummeln. (Die 24 Bücher der Heiligen Schrift. Übersetzt von Leopold Zunz, 1794 – 1886. Reprint Basel 1980)
There is leviathan, whom Thou hast formed to sport therein. (The Holy Sciptures. The Jewish Publication Society of America. Philadelphia 1954)
das Ungeheuer, das du schufst, darin zu scherzen. (Die Psalmen. Übersetzt von Moses Mendelssohn. Neudruck Berlin 1991)
Der Liwjatan, den du, mit ihm zu unterhalten, schufst. (Die Heilige Schrift. Neu ins Deutsche übertragen von Harry Torczyner. Frankfurt a.M. 1937)
Die schillernde Mehrsinnigkeit des hebräischen Originals läßt sich in diesen Übersetzungsvarianten, die sämtlich der jüdischen Tradition angehören, bereits erahnen.
In ihrem Vergleich zeigt sich, daß der hebräische Grundtext in einem entscheidenden Punkt nach mehreren Richtungen hin ausgelegt werden kann.
In der Version von Philippson etwa, wie in der von Rosenzweig/Buber, ist die für uns entscheidende Mehrdeutigkeit aus dem Original in die deutsche Übersetzung hinübergerettet. Sie läßt einen gravierenden Punkt offen, nämlich die Bestimmung des Subjekts des Spiels.
Lesen wir noch einmal:
Ewiger, wie viel sind deiner Werke!
Alle hast du mit Weisheit gemacht,
voll ist die Erde deiner Güter! –
Da ist das Meer, groß, ausgedehnt;
daselbst Gewimmel ohne Zahl,
Gethier, so klein wie groß.
Da wandeln Schiffe, der Leviathan
den du bildetest, darin zu spielen. (Die heilige Schrift. Urtext u. deutsche Übersetzung v. Dr. Philippson, Dr. Landau u. Dr. Kaempf. Berlin 1901)
Was geht da vor sich?
Hat Gott Leviathan gebildet, um ihn im Meer und seinem Gewimmel spielen zu lassen?
Oder sollte Gott ihn gestaltet haben, um selbst in ihm zu spielen?
Ich möchte im folgenden die Auslegungsvariante verfolgen, die von einem Spiel in Leviathan redet.
Von diesem Textverständnis her wird der Versuch unternommen, das Phantasma (Phantom, Phänomen) des Leviathans in fremden und eigenen Deutungen, in poetischen und nachdenklichen Kleinarbeiten in den Augenblick zu retten, der dem Leser gehört.
1. Zwischen Maschine und Tier
“Leviathan“, Titel einer voluminösen Abhandlung, 1651 in London erschienen. („Leviathan, ore the Matter, Forme and Power of a Commonwealth, Ecclesiasticall and Civill“)
Gleich zu Beginn eine erstaunliche Feststellung:
“Die Natur oder die Weisheit, welche Gott in der Hervorbringung und Erhaltung der Welt darlegt, ahmt die menschliche Kunst so erfolgreich nach, daß sie unter anderen Werken auch ein solches liefern kann, welches ein künstliches Tier genannt werden muß. Denn da Leben doch nichts anderes ist als eine Bewegung der Glieder, die sich innerlich auf irgendeinen vorzüglichen Teil im Körper gründet – warum sollte man nicht sagen können, daß alle Automaten oder Maschinen .. gleichfalls ein künstliches Leben haben?“ (Thomas Hobbes, Leviathan. Übersetzt von Jacob Peter Mayer, Stuttgart: Reclam 1970, 5)
Die Rede ist von Leviathan.
Zwei, drei Sätze danach:
“Der große Leviathan .. ist ein Kunstwerk oder ein künstlicher Mensch – obgleich an Umfang und Kraft weit größer als der natürliche Mensch“. (Hobbes, Leviathan, ebenda)
Noch scheint die Vorstellung vom despotischen Souverän oder vom Staat als Resultat eines, unter dem Druck roher Selbsterhaltungsinteressen zwar zustandekommenden, zugleich aber auch mißglückenden und ins Monströse geratenden Paktes fernab zu liegen.
Dafür fasziniert etwas anderes: Hobbes Vorwissen von Strukturen, die sich zwischen Organismen und Maschinen bewegen, in der Schwebe zwischen Kunst und Natur. Es drückt sich in seiner originellen und neuartigen Leviathanskonzeption aus. Diese will nicht nur gesehen werden in ihrem metaphorischen Verweis auf das ‘Staats-Wesen’, sondern auch als kraftvolle Um- und Neudeutung einer gleichsam protomythischen Figur.
So finden wir bei Hobbes L. als eine, die menschlichen Subjekte übergreifende und sich ihrer bemächtigende Instanz, L. als Superindividuum vom Typ jener synthetischen Geschöpfe, die von der Science Fiction der vergangenen Jahrzehnte unter dem Namen Cyborg („cybernetic organism) in die wissenschaftliche Spekulation eingeführt wurden.
In der Deutungs- und Auslegungsgeschichte des Leviathan ist der Beitrag des englischen Gesellschaftsphilosophen ein Mark- und Meilenstein: L. als androides Geschöpf, Wechselbalg und Ausgeburt zwischen Kunst und Natur, oder Natur und Technik, wie wir heute sagen: individualisiert und synthetisch zugleich. L. repräsentiert das Sicherheitsbedürfnis der Menschen, die sich im Gesellschaftsvertrag zusammengefunden haben. Er steht für viele, bleibt aber Einer, durch Personifikation verengt, zwar zum Superindividuum oder Makroanthropos erhoben, aber ohne daß in ihm die gesellschaftlichen und pluralen Tendenzen und Interessen je abgestimmt würden, geschweige denn zum Zuge kämen. Sie bleiben einer bloß persönlichen Willkür unterworfen.
Immerhin verschlingen sich in Hobbes Denkfigur mythische und machtpolitische Elemente auf faszinierende Weise. So thront L. als emblematische Monumentalgestalt in den uneingeschränkt herrschenden Regenten. Jeder von ihnen, nach Hobbes Aussage, ein “sterblicher Gott“, der seine menschlichen Schöpfer in sich enthält und zugleich weit unter sich läßt.
Spiele in L.:
Gesellschaftsspiele.
Machtspiele.
Markt- und Börsenspiele.
L. als öffentlicher Raum,
der sich in Stadien, Arenen, Medien und
politischen Foren auftut und wiederholt.
L. als Denkraum, Verkehrsraum,
Stauraum, Handelsraum….
Zusammengefunden in Leviathan beginnt es zu denken.
Sie denken. L. denkt. Ein Spiel:
eine tausendfach zersplitternde Bewegung unterhält und durchläuft,
in Wellen und Brechern aufwärts, seitwärts, abwärts …
Monstrum und zivilisatorische Errungenschaft.
Ein Prinzip, aus dem Denken entspringt.
Dynamik aus dem Bauche des L.
Überlegung:
Ein Zustand – Kernzustand
nach den strengen Gesetzen von Ei und Monade,
in den Zyklus verbracht,
eine Art Stirnreif,
ein Begriff.
Dann zappelt es. Oberhand gewinnt der Begriff, –
bis eine Anwandlung von Schwäche überkommt:
Alles entfällt.
Was dann noch dauert und bleibt, ist wieder
wie Lindwurm,
wie Quappe im Ei.
2. Das Spiel …Das Meer, Gewimmel, Schiffe, Leviathan, den du gebildet, darin zu spielen …
Man tut sich schwer bei dem Versuch, eine Vorstellung zu entwickeln vom Spiel, das zwischen Gott und Leviathan statthaben könnte. Wir erinnern an die letzten Kapitel des Hiobbuches: Gott erweist seine Allgewalt, indem er seinem Herausforderer Hiob Leviathan vorführt und ihn durch diese Größendemonstration nötigt, klein – und kleinlaut – beizugeben. (Hiob 40, 25ff, sowie 42, 1ff.)
Die gängige Auslegung, von den eher negativen (menschen- und schöpfungsfeindlichen) Tendenzen des L. ausgehend, liest aus dem uns vorliegenden Psalmvers: Gott ist so groß, daß sogar die Konfrontation mit L. (als Chaosdrachen, als konfiguriertem Bösen, als Welt-Macht, als unbändiger Naturkraft, Physis, ’nous hylikos’ usw.) für ihn bloß Kinderspiel ist.
Oder ein Spiel vom Typ Katz-und-Maus: Gott erledigt L., eine Kleinigkeit, mit dem kleinen Finger. Ein lächerliches Spiel und sicher kein Grund, dafür L. zu erschaffen.
Also muß ein anderes Spiel sein, ein Spielen Gottes in Leviathan.
Ein Spiel, das ebenfalls unter Gottes Würde verbliebe, sofern wir uns unter L. nur den „alten Drachen“ vorstellen könnten oder eine spezifische, allenfalls hebräische Variante zum Lindwurm.
Es scheint, als müßten wir ein neues Bild von L. entwickeln, um Klarheit auch über das Wesen des Vorgangs zu erhalten, der sich in ihm abspielt.
Im Vorfeld der Arbeit für diesen Beitrag stieß ich auf ein solches neues und unerwartetes Bild. Es findet sich in einer Schrift des Maharal, der uns vermutlich besser bekannt ist unter dem Namen Rabbi Löw von Prag, Schöpfer des legendären Golem. Maharals Schrift liegt mir nur in französischer Übersetzung vor. Ihr Titel: “Le puits de l’exile“. (Rabbi Yehuda Loew, Le puits de l’exil. Traduit et présenté par Edouard Gourévitch. Paris 1982.)
Im Verweis auf eine Talmudstelle kommt Rabbi Löw zu einer sehr überraschenden Deutung des “Spiels“:
“Zwölf Stunden hat ein Tag. Die drei ersten sitzt Gott und beschäftigt sich mit der Tora. Die zweiten sitzt er und richtet die ganze Welt … Die vierten sitzt er und spielt mit/in Livjathan, wie es heißt Ps 104,26: Der Livjathan, den du gebildet, mit ihm / in ihm zu spielen.“ Traktat Aboda zara 3b, 18. Zitiert nach Strack-Billerbeck, a.a.=., Bd. 4/2, 1159.)
Die Zustände, in die sich Gott begibt, drücken eine Annäherung aus. Es sind Stufen oder Steigerungen im Annäherungsprozeß, den er im Verhältnis zu seiner Schöpfung durchläuft. Rabbi Löw will darlegen, daß Gott im Welttageslauf sich nicht von der Welt abkehrt, sondern Einswerdung mit seiner Schöpfung anstrebt:
“’Dieu joue avec le Léviathan’, ils (les Sages) n’ont voulu parler que de l’union de la volonté divine avec cette créature“. (Rabbi Yehuda Loew, a.a.O., 195: „Gott spielt mit dem L., sie (die Weisen) wollten von ni chts anderem sprechen als von der Einheit des göttlichen Willens mit dieser Kreatur.“)
Der hebräische Terminus ’razon’ wird in der uns vorliegenden Übersetzung mit ’volonté’ wiedergegeben.
Im Deutschen kommen wir dem Sinn näher, wenn wir ’razon’ direkt mit ‘Wohlwollen/gefallen’ übersetzen.
Maharal führt also aus, daß der ’razon’ Gottes seine Erfüllung findet im Einswerden mit dem Objekt dieses Wünschens. ‘razon’ bezeichnet ein Verlangen nach etwas, wie auch das Ersehnte selbst, ähnlich unserem Begriff ‘Lust’. Das heißt, in ’razon’ fallen Triebquelle und Triebziel zusammen. Und Leviathan ist die Gestalt, unter der sich, genauer in der sich dieses Zusammenfallen realisieren kann: spielerisches Fusionieren des Schöpfers mit seinem Geschöpf, lustvolle Präsenzbezeigung, Anwesenheit und Einwohnung.
“Car cette créature (= L.) était spécialement destinée à ce que l’on s’unît à elle. Quant à l’essence du jeu et du rire, ce n’est que la jonction et l’union avec quelque chose, au point que l’on n’a pas l’un sans l’autre.“ (ebd.: „Denn diese Kreatur (= L.) war speziell dazu bestimmt, daß man (= Gott) sich mit ihr eint. Was nun das Wesen des Spiels und des Lachens angeht, so ist das nichts anderes als das Zusammengehen und die Einung mit einer Sache bis zu dem Punkt, daß das eine ohne das andere nicht mehr erhältlich ist.“)
Halten wir in aller Kürze fest: Spielen Gottes im Leviathan – das ist lustvolle Verschmelzung, Einung, Einswerdung von Schöpfer und Geschöpf.
3. …im vollkommenen Wesen
Nach Rabbi Löw ist Leviathan vollkommen, hebr. ‘schlm’. ’schalom‘, „ein Wort, das sich wegen seiner Vieldeutigkeit kaum in irgend eine andere Sprache genau übertragen lässt“, n. J. Levy. Wb.üb.d.Talmudim u. Midraschim, Berlin/Wien 1924. Bd. 4. 564)
Dies ist die Ursache dafür, daß Gott in ihm Wohlgefallen und Einswerdung finden kann. “Car Dieu ne saurait s’unir a rien d’imparfait.“ (Rabbi Yehuda Loew, a.a.O., 193)
In der Dimension Schöpfung ist L. ein Ausbund oder Inbegriff an Vollkommenheit.
Woher aber bezieht Maharal diese positiven Leviathansvorstellungen?
Sie gehen inhaltlich im wesentlichen auf die folgenden ’klassischen’ Zuschreibungen zurück:
· Gott spielt = erfreut sich an/in L. (Psalm 104, 26)
· Gott hat L. „in/mit Weisheit erschaffen“. (Psalm 104, 24)
· daß L. einst den Gerechten in der jenseitigen Welt zur (koscheren) Speise gereicht werden wird, ist ein starker Beweis für seine Vorzüglichkeit. Auch nimmt dieses Mahl in Ewigkeit kein Ende. (Baba bathra 75a: „Dereinst wird Gott den Gerechten ein Mahl bereiten von dem Fleisch des L.“; Leviticus rabba 22: „… an Stelle der verbotenen Fische der L., der ein reiner Fisch ist“; Midrasch Esther 1, 4: „…für das Mahl unseres Gottes, das er in der Zukunft den Gerechten bereiten wird, gibt es kein Ende.“, zit.n. Strack-Billerbeck, a.a.O, 1156, 1161, 1155)
· aus der Haut des L. werden in der kommenden Welt die Hütten der Gerechten gefertigt sein, dann der Halsschmuck der Gerechten. Mit den Hautresten wird man die Mauern Jerusalems ausstatten. Dann werden sie heller leuchten als Sonne und Mond. (Baba bathra 75a)
Rabbi Jehuda Löw beläßt es bei dem günstigen Bild, das die erwähnte Tradition von Leviathan entwirft. Er sieht keine Veranlassung, die ihm zuerkannte “Vollkommenheit“ näher zu begründen oder zu erläutern.Wir werden versuchen, diese Vollkommenheit aus eigener Anstrengung in den Blick zu bringen.
Wenn wir für ‘vollkommen’ ‘umfassend’ setzen, im räumlichen und zeitlichen Sinne, also ‘(all)umfassend = nicht-ausschliessend’, fällt eine Leviathansdarstellung ein, wie sie der hebräische Dichter Qallir im fünften Jahrhundert überliefert hat:
Dort liegt er, riesengroß, so daß seine Flosse die Gestirne zum Verschwinden bringen könnte: “it rests, like a gigantic ring, round the ‘Great Sea’ (which, according to the Aggadah, encircles our world) and the end of his tail reaches his mouth.“ Jefim Schirmann. The Battle between Behemoth and Leviathan, according to an Ancient Hebrew Piyyut. Jerusalem 1970. 8. – Piyyut, bzw. Pijut ist ein liturgisches ‚Poem‘ im synagogalen Gottesdienst)
Hier finden wir L. dem ‘Ouroboros’ angenähert, der ringförmigen Schlange der hermetischen und alchemistischen Tradition, in der Anfang und Ende zusammenfallen und wiederum auseinander hervorgehen, Kontur des Universums. (zu ‚Ouroboros‘ bemerkt Ad de Vries. Dictionary of Symbols and Imagery. Amsterdam/London 1984. 353: „living in all things and linking all things it stands for Cosmic Unity, the One is All (‚En to pan‘, d.h. das Eine ist das Ganze / All))
Und wie Ouroboros symbolisiert L. Einheit der Gegensätze.
Er stellt Gegensatzbeziehungen dar, die zwischen entgegengesetzten Polen auftretende Spannung.
Deswegen zeigt uns die jüdische narrative Überlieferung den in solchen Gegensatzspannungen schillernden L.:
Jesajas L. (zu Jesaja 27, 1):
Starre / Bewegung
geknäult / gestreckt
Erstarrung / Erregung
alles in Schüben und Windungen:
“Leviathan. The Theli“ („Leviathan. The Teli“ findet sich als lapidare Notiz im Jesajakommentar des Ibn Ezra zur Stelle Jes. 27, 1, The Commentary of Ibn Ezra on Isaiah. Ed. by M. Friedländer. New York o.J. 121. „theli“ geht zurück auf hebräisch „talah“ = „erheben, hängen“, dann „in der Schwebe halten / sein, nach Jacob Levy, Wb., Bd. 4, 644f.; „unbestimmt, zwefielhaft sein“ nach W. Bacher in Theologisches Wb. z. AT, Hg. J. Botterweck / H. Ringgren. Stuttgart 1995. Bd. 8, 657)
· er lagert im Horizont der Welt, gewissermaßen im Umriß, in der Kontur der Totalität; er steht in Feindschaft zur Schöpfung, sucht sie zu vernichten. Dann wieder Gespiel Gottes.
· zwar ist seine Herrschaft vor allem im Wasser, aber aus seinem Maul geht Feuer hervor.
· es gibt ihn nur männlich, es gibt ihn nur weiblich, es gibt ihn – aber nur im Augenblick der Erschaffung – als Paar. Es gibt ihn praktisch geschlechtslos, nämlich kastriert. (vgl. dazu Strack-Billerbeck, a.a.O. 1156 – 1160. Ranke-Graves / Patai. Hebräische Mythologie. Hamburg 1986. 58)
· wenn L. auch oft der Unterwelt oder sogar dem Bösen zugerechnet wird – sein Haupt, seinen Kopf steckt er ungestraft in den Garten Eden (Baba bathra 75a), aus dem alles Böse definitiv verbannt ist.
· wir begegnen ihm als Fisch, Schlange, Krokodil, Drache, Astral- oder Sideralwesen, also auf physiologischem, psychologischem, mythologischem, astrologischem, politologischem, philosophischem Terrain.
· in zeichenhafter Verwendung, als Emblem selbstherrlicher Weltmacht, als Repräsentanz akkumulierter Kräfte im Phänomen Staatsgewalt: Inbegriff ‘drakonischer’ Herrschaft (L. „used figuratively for the kings of the land“. Ibn Ezra. Commentary on Isaiah. 121f.).
Dann aber auch ‘Staatswesen’ als ‘höhere Ordnung’, die ein relativ friedliches Zusammenleben unterschiedlicher, durch keine vorgängigen Beziehungen (Sprache, Verwandtschaft, Religion) aneinander gebundener Individuen gestattet.
· er gilt als überwunden von Gott und seiner Schöpfungsordnung – Gott hat seine Häupter zerstückt -, aber dann wird auch erzählt, daß erst der Messias seiner Herr werden wird und ihn aus der Tiefe hervorziehen muß, als Hauptgang im großen Mahl der Gerechten in der kommenden Welt.
· L. ist der Schrecken dieser Welt, aber auch die geheime und geheimnisvolle Ressource im Hinblick auf das Leben in der kommenden (erlösten) Welt: seine Haut wird als Lichtquelle aufgeteilt werden unter den Gerechten und auf den Mauern von Jerusalem, das davon seinen dauernden Glanz haben wird:
“Rabbah hat gesagt, R. Jochanan habe gesagt:
Dereinst wird Gott den Gerechten ein Mahl bereiten von dem Fleisch des Livjathan…
Was aber übrigbleibt (vom Livjathan), verteilen sie u. treiben damit Handel auf den Märkten Jerusalems…
Rabbah hat gesagt, R. Jochanan habe gesagt: Dereinst wird Gott den Gerechten aus der Haut des Livjathan
ein Hütte machen …
Was aber übrigbleibt, wird Gott über die Mauern Jerusalems breiten, u. sein Glanz wird leuchten von dem einen Ende der Welt bis zum anderen.“ (Psalm 74, 14)
4. Unterdrückung von Zugleichheit
In merkwürdiger Verschwisterung mit solcher Zugleichheit der Gegensätze, von Pol und Gegenpol, von Pode und Antipode, begegnen wir im Fall L. dem der Unterdrückung solcher Zugleichheit(en). Im biblischen Text wird dies im Bild der ‘Zerstückung’ gezeigt. Der Psalmist preist Gott als “der Du die Häupter Leviathans zerstücktest“ (Psalm 74, 14)
Sie werden von Gott um der Menschen willen zerstückt. Das heißt: ohne Aufhebung (Suspension), bzw. Unterdrückung der Zugleichheit wäre kein entscheidungsfähiges Bewußtsein möglich. Deswegen müssen “die Häupter zertrennt“ werden.
Die erzählende Tradition (Agadah) bestätigt (und affirmiert) diese bewußtseinsnotwendige Zerstörungsmaßnahme. Aber sie hält auch fest am integralen L., in dem Gott spielt. Und sie läßt durchblicken, daß ein tiefer Wunsch nach Aufhebung der Abspaltung von Teil und Gegenteil lebendig ist, und daß in der kommenden Welt die totale Zugleichheit, also der vollständige Leviathan, allen Schrecken verloren haben und den Menschen zu Lust und Geselligkeit dienen, ja, durch Einverleibung als Kraft und Vermögen in sie übergehen wird. Insofern wird am L. anschaulich sowohl Zugleichheit wie auch deren Zerlegung. In seiner totalen Existenz bewußtseinsfähig wird L. nur dadurch, daß in ihm die Einheit der Gegensätze zwar immer wieder durchschimmert, aber auch zerschlagen bleibt. Jede Qualität gelangt qua Tilgung ihres Gegenaspekts in Erscheinung und Existenz. Diese Tilgung ist keine dauer-, sondern eine wechselhafte. Sie erfolgt in einem unkalkulierbaren Hin und Her und in unvorhersehbaren Frequenzen. Das zum Verständnis Leviathans und seiner Wirklichkeit notwendige Prinzip der Gegensatzabspaltung oder reziproken Verneinung schlägt auf sein Gesamtwesen zurück: das vollkommene Wesen hat sich schlagartig zum Trugwesen gewandelt, das um die Welt geschlungene Band ist in irgendwelche inkonsistenten Bestandteile aufgelöst.
Und doch bleibt, aus einem anderen Verstehenszugang, der integrale L. erhalten, als grandiose Arena, als Spiel- und Schauplatz Gottes. Die Dramatik, der Reiz und die innere Dialektik dieses Spiels werden verständlich, wenn wir von den vielfältigen Antagonismen und Gegensatzspannungen, die in L. aktivierbar scheinen und sich im göttlichen Spiel immer wieder neu aufbauen, auf einen Grundwiderspruch zurückgehen. Er zeichnete sich bereits ab: es ist der von Existenz und Nichtexistenz. Das Hebräische hat für das primordiale Gegensatzpaar ‘Etwas / Nichts’ die Formel ‘jesch / ajin’.
5. Unwesen, Vernichtung, Nichtwesen
L. = “many coils: the devouring Round of existence“William Blake (zit.n. Ad de Vries, a.a.O. 296)
Zwischen den Verwünschungen, die Hiob gegen den Tag seiner Geburt und gegen die Nacht der Empfängnis ausstößt, taucht Leviathan auf:
Selbige Nacht entführe das Dunkel;
nicht freue sie sich unter den Tagen des Jahres,
unter der Zahl der Monde trete sie nicht auf.
Siehe, selbige Nacht sei öde, es komme kein Jubel in sie.
Es verwünschen sie die Verflucher des Geschicks:
die bereit sind den Liwjatan aufzuregen! (Hiob 3, 6 – 8 in der Übersetzung von Leopold Zunz)
Der Sinn der Stelle ist unsicher. Aber die destruktive Funktion L.s ist aus dem Zusammenhang gut erkennbar.
Vernichtung und Leviathan gehören zusammen, eng und praktisch überall. Dabei begegnet das Vernichtungsmotiv doppelt, nämlich aktiv und passiv: L. als Verschlinger, Vertilger, Vernichter – sein Hunger und sein Durst sind unvorstellbar. Ein Glück für die Menschen, daß sie ihn nicht ernähren müssen. (Pesiqta rabba 194b. Nach Strack-Billerbeck, a.a.O. 1160)
Aber auch die Himmelskörper Sonne und Mond sind von diesem Monstrum bedroht.
Hiobs Todeswünsche zielen auf den Leviathan als eine magische, verzweifelt ergriffene ’ultima ratio’ mit dem Effekt, Geschehenes ungeschehen zu machen, Geschichte durch Verschlingen zu tilgen.
Täter von Vernichtung. Unter dieser Zuschreibung lernen wir L. meistens kennen. Sie ist richtig und wichtig genug, wahrgenommen zu werden. Da gilt L. als schöpfungsfeindliches Prinzip, als Rebell gegen die erlassene Schöpfungsordnung. Lilith und die Paradiesesschlange sind seine Spielarten, seine Permutationen, mittels derer L. die Schöpfung zu ruinieren sucht. (vgl. dazu MacGregor Mathers. The Kabbalah Unveiled. York Beach 1986. 42)
Aber bei eingehenderem Studium lernt man die ‘andere Seite’ kennen, L., der Vernichtung unaufhörlich erleidet. Sie bliebe unbeachtet, wenn die Agadah (unter Agadah versteht man die narrativen Anteile des Talmud, eine Erzähltradition, die dann insbesondere in den Midraschim zur Entfaltung gelangt ist) – zwischen den Zeilen – nicht immer wieder darauf verwiese: auf die Schlachtung des einen, gerade geschaffenen Partners; auf die Zerstückelung und Einpökelung vor aller Geschichte; auf die Schlachtung, ja Vertilgung oder Vernichtung am Ende, als Höhepunkt aller Geschichte und als Ouvertüre zur Verwirklichung der kommenden Welt, in welcher die Lustbarkeiten dieses Festmahls in Ewigkeit fortdauern werden.
6. ‘jesch mejin’
Genesis 1, 1: “Bereschit bara Elohim“
“Im Anfang, als Gott aus nichts schuf“
– wo hat Gott bloß das Nichts her?
Nun gibt es für die Vernichtungskarriere, die L. durchläuft, einen Moment, der sie zwar begründet, ihr aber auch entgegengesetzt ist, nämlich L.s Entstehung. Sie erfolgte, nach rabbinischer Auslegung der biblischen Schöpfungsurkunde, am fünften Tage. Für diesen Tag ist zu vermerken, daß bei ihm die Formel “wa jehi ken“, “und es ward so“, womit die anderen Tage beschlossen werden, fehlt. Das Ausbleiben dieser Siegelung oder Bestätigung deutet auf ein Offenlassen und Offenbleiben, auf einen oder auf eine Summe unabgeschlossener Prozesse. Es gibt der Vermutung Raum, daß das Werk des fünften Tages noch andauert, noch im Fluß, in Bewegung ist, beispielhaft in Leviathan entfaltet. Nach rabbinischer Ansicht fällt L. in die Kategorie der ’tanninim’ (‘Drachen’). Rosenzweig/Buber übersetzen mit ‘Ungetüme’:
Gott sprach:Das Wasser wimmle, ein Wimmeln lebenden Wesens, und
Vogelflug fliege über der Erde vorüber dem Antlitz des
Himmelsgewölbs!
Gott schuf die großen Ungetüme
und alle lebenden regen Wesen, von denen das Wasser wimmelte, nach ihren Arten …(Gen.1, 21f. i. d. Übersetzung von Buber/Rosenzweig)
Für die Erschaffung der ’tanninim’ bedient sich das Hebräische eines spezifischen Ausdrucks, ‘bara’, der in der Bibel nur mit Gott als Subjekt vorkommt. Er deutet auf Menschenunmögliches, nämlich auf ’creatio ex nihilo’, ’Schöpfung aus nichts’: ‘jesch mejin’, ‘Existenz aus Nichtexistenz’, lautet die dafür gängige Formel (z.B. bei Malbim. Commentary on the Torah. Hillel Press. 1982. Book 1, 118. Malbim = Rabbenu Meir Lebusch ben Yechiel Michel, 1809 – 1879)
Über das Privileg, eine Schöpfung zu sein aus nicht bereits vorhandener, sondern mit ihnen radikal neu geschaffener Substanz und/oder Energie, verfügen
· Himmel und Erde (Gen. 1, 1: „Im Anfang schuf / bara Elohim Himmel und Erde …“)
· Adam, das Menschenwesen (Gen. 1, 27: „… und es schuf / jiberah Elohim den Menschen / Adam“)
· die ‘tanninim’ (Meeresungeheuer, Drachen, Monstren), unter welche die Überlieferung eben auch den L. rechnet. (Gen. 1, 21) L.’s Potenz zum Vollkommensein hat zentral damit zu tun, daß er nicht aus Etwas (Feuer, Wasser, Materie, Raum, Geist o.ä.) erschaffen oder hervorgegangen ist, sondern ‘aus Nichts’, ‘mejin’. Es gibt also in L. eine ausdrückliche Nähe zur (göttlichen) Vollkommenheit und eine dadurch keineswegs beeinträchtigte Beziehung zum Nichts (Gottes). Auf die eigentümliche Analogie von Nichts und Vollkommenheit ist in kabbalistischen Schriften und philosophischer Mystik immer wieder verwiesen worden (ohne daß dabei L. als Bindeglied oder Koppelung notwendigerweise mitgedacht worden oder ‚aufgetaucht‘ wäre):
“Die Teilheiten sind ergreifbar, erkennbar und aussprechbar, aber das Vollkommene ist aller Kreatur unergreifbar, unerkennbar und unaussprechbar, ihrem Kreatursein gemäß. Darum nennt man das Vollkommene ‘Nichts’, denn es ist nicht von ihrer Art.“ (Gershom Scholem. „Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes“. In: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Ffm. 1970, 74)
“Im Palast des Nichts wohnt das All“. (Josef Taitatzak, spanischer Kabbalist um 1500, nach Scholem, a.a.O. 83)
“’ayin’, ‘nothing’ combines a thing & its opposite“. (Abraham Kalisker, ca. 1800. Zitiert nach Jerome Rothenberg. Exiled in the Word. Washington 1989. 58)
7. Der Wille und sein Nichts
In der philosophischen Mystik, wo sie sich auf das biblische Schöpfungsgeschehen bezieht, begegnen wir dem Schöpfungs-Nichts in einer ‘überkreatürlichen’ Deutung, nämlich ausgelegt auf den initialen Willen Gottes zur Schöpfung (und zu sich selbst als Schöpfer):“Das Hervortreten des Willens selber aus Gott ist jenes Nichts der Schöpfung.“ (Scholem, a.a.O. 71)
Nirgends außer
im Nichts ist
der Möglichkeit nach
alles enthalten
weil es über der Ruhe und über der Bewegung steht
darum hat man es als Nichts bezeichnet. (vgl. dazu Scholem, a.a.O. 70)
Die Erhebung des Nichts in die Willensinstanz verleiht dieser die erstrebte Souveränität und Vollkommenheit. Im gleichen Zuge wird das Nichts als schöpfungsnotwendige und positive Größe verklärt.
Die unvermutete Verknüpfung von Wille und Nichts gibt unserer Untersuchung eine neue Richtung: bislang mußte das Nichts in Raum und Zeit vermutet werden, als eine Art Vakuum, absolute Leerstelle, oder im Gegensatz zu Substanz und Energie, die das uns bekannte Universum ausmachen. Oder – in mythischer Rede – sogar mit Gott selbst in paradoxe Identität gebracht. Jetzt aber haben wir gute Gründe, dem Nichts im mentalen Bereich nachzuspüren, genauer: in der Kernregion reflektierbarer Subjektivität. Diese ergibt sich ja – und ergibt sich erst – durch die Ausstattung mit einem Willen. Vorformen des Willens, etwa als Triebe, finden sich zwar in allen Lebewesen, aber immer gebunden. Nur im Falle des Menschen erlangt dieser Wille Grade von Ungebundenheit, die die Annahme einer prinzipiellen und individuellen Willensfreiheit überhaupt erst erlaubt haben. Von allem Etwas entbunden und damit freigesetzt ist dieser Wille, weil er sich in all seinen Komponenten de facto auf Nichts bezieht. (Übrigens läßt sich für die, bei analytischem Vorgehen auseinandertretenden Willenskomponenten „Imagination“, „imaginierendes Begehren“, Wünschen“, „Verlangen“, „Sehnen“, „Hoffen“ iene ganz entsprechende Ausrichtung und Qualität feststellen: diese Strebungen – die auch als Kräfte gedeutet werden können – sind in sich zunächst leer, verdanken ihre Beweglichkeit, Plastizität und Transformierbarkeit dem Rapport zum „Nichts“, aufgehängt und ausgespannt zwischen noch-nicht und nicht-mehr)
Wie im Willen so dauert auch in L.das Nichts des Ursprungs fort. Daraus ergibt sich der Rapport auf eine ‘Größe’, auf eine radikal metaphysische ‘Instanz’, die alles Geschöpfliche übersteigt, bzw. unterbietet. Der Wille legt in seinem Nichts eine Transzendenz an: Spiegel höchster Vollkommenheit. Aber zugleich – und das macht die Ambitendenz des Willens wie auch die des L. deutlich – ist eine hohe Gefährdung daran angeschlossen. Die Erhebung und Verklärung des Nichts hat dieses keineswegs seines destruktiven Potentials beraubt. Die schöpferischen Möglichkeiten, die in solch einer Nichtskonzeption liegen, werden unablässig von zerstörerischen Tendenzen durchkreuzt. Dies gilt zunächst für die Subjekte Mensch und L. Durch sie könnte jedoch die gesamte Schöpfung in eine Art zerstörerischen Sog oder Wirbel hineingezogen werden. In meinen bisherigen Ausführungen bin ich eher bibelorientierten Traditionen gefolgt. Mit der schon lange nahe liegenden Annahme, daß Willen, Vollkommenheit, Leviathan und insbesondere auch das Nichts gedankliche, begriffliche, bildliche Erzeugungen sind, die erst im menschlichen Bewußtsein aufgehen (und nur dort anzutreffen sind und darin verbleiben), kehrt sich die Perspektive um: das Nichts findet seine Ursache erst ganz spät, in der spätesten Lebewesen-Funktion des zuletzt erschaffenen Geschöpfes, nämlich in Intelligenz und Intellekt. Das heißt: das Denken erschafft das Nichts, aus dem erdachten Nichts erhält auch L. seine Gestalt. In dieser Lesart geht allen Beteiligten ein wenig von ihrer übergeschöpflichen Würde verloren. Aber sie zeigt, in ihrem Hintersinn verstanden, die unverzichtbare Bezogenheit und wechselseitige Bedingtheit von selbstbewußter Betrachtung und selbstlos spiegelndem Nichts.
Denn jetzt erhellt sich das Nichts als selbstinterpretatives Utensil und dessen Erfindung (oder Konstruktion) als absolute, als die einzige absolute Denknotwendigkeit: denn in der Setzung, ja schon in der bloßen Annahme eines Nichts gehen Verstand und Vernunft radikal hinaus über die Gegebenheiten des Universums, über die Realitäten des ‘vorhanden’, in/aus irgendetwas bestehenden Kontinuums von Welt(en).
Ein Nichts läßt sich nirgendwo im All beweisen, deutet sich nirgends an, ist weder mit naturwissenschaftlichen Methoden noch mit technischen Mitteln je zu erschliessen. Und genau in solch eigensinniger und eigenwilliger Abweichung von dem, was IST und sich immer wieder als Bedingung menschlicher Existenz aufdrängt, steckt eine ungeheuere Kraft. In dieser noetischen Fiktion setzen wir uns philosophisch oder theologisch zur Wehr gegen die einschränkenden und depotenzierenden Auswirkungen und Einflüsse aller bloß pragmatischen Weltsichten und ‘Realitäts-Prinzipien’. Denken fängt im Willen an und jede Hemmung oder Beschädigung des Denkens schlägt auf den Willen zurück, der aus Nachdenken und Besinnung neu hervorgehen könnte. (Die Erfindung und Einführung der Null zeigt aber auch gut, wie eine noetische Fiktion wie das ‚Nichts‘ zu einer bewegenden, Welt und materielle Wirklichkeiten schaffenden und umschaffenden Kraft werden kann. In der Null ist das Nichts operabel gemacht, schöpferisch geworden – wenn man so will. Es gibt in der modernen Technik, aus deren Funktionieren die Null nicht mehr wegzudenken ist, eine Spur derselben phantasmagorischen, auf nichts zurückweisenden Qualität, wie sie auch in L. steckt)
In solchem Nachdenken, wo es mühelos durchschaubar geworden ist als reine Erfindung, als reine Erfindung, als intelligentes Phantasma, in solcher Besinnung ist es dann auf einmal zersprungen – dies großartige, dies absolut unbestimmbare Nichts, in winzige Stücke. In ihnen ist es wieder da, das kleine ’nichts’ bei bestimmter Verneinung, aber in vielen Verkleidungen schillernd:“überall, wo in der Schrift ‘ajin’ steht, so ist auch ‘ja’ darunter begriffen“ (Midrasch Threni rabba 59d. Bei Levy, a.a.O. Bd. 2, 486)
Bei Sichtung der Trümmer nach dem Zerspringen des Nichts als Folge seiner kritischen Prüfung stößt man manchmal auf einen scheinbar unbeschädigt gebliebenen Klumpen. Es ist der harte, aus lebensgeschichtlich eingeprägten Verlust- und/oder Vernichtungserfahrungen der Psyche eingelagerte Kern. Nein, kein Kern, eine Negativform, ein hineingerissenes Loch, ein Krater, eine Leere, ein kavernöser Grundschmerz, das Nichts einer gleichsam anderen Materie. Daher sei die Betrachtung dieses Brockens einer späteren, psychoanalytisch orientierten Exkursion vorbehalten.
8. Schlußbekenntnisse
“Im großen und ganzen wird man sagen dürfen, daß der Mythos keine Schöpfung aus Nichts kennt. Für ihn ist immer irgendetwas schon vorhanden. Die Schöpfung entsteht aus etwas, einem Urei, dem Meer, dem Flügel des Leviathan …“ (Scholem, a.a.O. 53)
Am Ende stellt sich noch einmal die Frage nach dem Spiel:
ungelöst
Noch immer nicht verstanden, nicht begriffen,
· warum es im Hebräischen für Vernichten und Vollenden dasselbe Wort gibt (hebräisch ‚kalah‘))
· wie es kommt, daß es für das Denken keinen Spiegel gibt, so universal wie das Nichts,
· und für die Phantasie kaum ein Wesen, so vielgestaltig, beweglich und schillernd wie L.
Nur zur Hälfte, aber sehr grell leuchtet ein, warum es bei Meister Eckhart heißt:
“Die größte Lust des Geistes ist gelegen in dem Nichts seines Urbildes“ (nach Scholem, a.a.O. 74)
En passant und geflüstert die Frage: wie groß sind Lust und Verlockung in einem Geist, das vorschwebende Urbild zunichte zu machen, um dann an seine Stelle zu treten?
Kein Anfang, kein Ende der Fragen:
· wie kommt es, daß in einem Talmudtraktat (Moed katan 25b. Nach Levy, a.a.O. Bd.2, 486) unter einem “Leviathan“ ein “großer Gelehrter“ verstanden wird?
· wie kommt es, daß man im Brockhaus von 1996 noch nachlesen kann: “Neuerlich wendet man in Fabriken fast durchgängig kontinuierlich arbeitende Waschmaschinen, sogenannte Leviathans, an, welche meist ganz selbstätig sind.“ (Brockhaus Konversations Lexikon. Leipzig 1896, unter „Leviathan“)
Haben ’Automaten’ und ’große Gelehrte’ tatsächlich etwas gemeinsam?
Und nicht zuletzt: wird man in L. spielen dürfen, wie einst Gott, oder muß er gegessen werden?
Mit diesen unbeschwichtigten Zweifeln kehren wir aus den Spielen in L. in eine Wirklichkeit zurück, die nun, im Unterschied zu den eben verstrichenen Augenblicken, dem Leser nicht mehr gehört. Denn Gefahr ist im Verzug: wir, die kleinen Fische im Ozean des Seins, sichten auf einmal überall Brechung:
“ .. Livjathan lagert über der Urtiefe. Wenn er essen will, macht er eine Brechung im Meer, und die Fische meinen, daß das etwas Eßbares sei und begeben sich dorthin, und er öffnet sein Maul und verschlingt sie, kein einziger von ihnen entrinnt und alle gehen in sein Maul hinein.“ (Tanchuma 26b. Nach Strack-Billerbeck, a.a.O. 1160)