irren & verwirren 6

Wer von irren und Irrtum redet, setzt eine verbindlich gegebene Ordnung oder sogar Wahrheit voraus. Dass dies heute und nirgends der Fall ist, von winzigen pedantischen und zwangsgeordneten Enklaven einmal abgesehen, wird heute kaum jemand ernsthaft bezweifeln.

Es gibt keine Wahrheit, von der ausgegangen werden könnte, und keine Wahrheit, die fraglos und einstimmig angesteuert zu werden verdient. Allerdings gibt es unterschiedliche Weisen und Wege der Bewegung dazwischen, der Fortbewegung von einem Ort zum anderen, aus einem Tag oder Augenblick in den anderen. Es gibt leichtfüßige, beschwingte und gefällige Formen des Weitergehens und Weiterkommens, daneben schwerfällige, stolpernde, durch Hinfallen und Ausrutschen, mühsames Aufrichten und Weggleiten gekennzeichnet.
Diese Fortbewegungsarten sind nicht charakterspezifisch. Es ist nicht so, dass der einen Person der zielgewisse Gang, der anderen das mühsame Vorantasten zugewiesen sind. Diese Bewegungsmodi wechseln jäh und unvorhersehbar, können von Feld zu Feld, von Augenblick zu Augenblick umschlagen. Sie selber, diese Arten des Vorankommens, sind gleitend oder auch ruckartig von einer Person auf die andere springend. Sie sind keinem persönlichen Willen unterworfen, sind nicht übertragbar und nur begrenzt zu erlernen.

Gibt es heilsame Verwirrungen?
Führen Irrtümer zu einer gewisseren Wahrheit als logische Folgerungen?
Ist auf Resultate Verlass, die deswegen passen, weil sie aus präparierten Einzelteilen montiert sind?

Und Kunst? Sollte sie nicht lieber zur Ordnung rufen, als abbringen von mühsam eingeschlagenen Wegen?

Was die einen als Erleuchtung beeindruckt, erscheint anderen wie eine Umnachtung.
Ein Zwiespalt, der bei den Betroffenen, aber auch in der Sache selbst liegen kann.
Jedes starke Erlebnis wirkt in doppelte Richtung: es kann erschüttern und im Selbstbewusstsein befestigen, Zusammenhänge zerreißen oder sichtbar machen, Grenzen auslöschen und Horizonte erweitern.

Kann Natur irren?
Schwierige Frage.
Ein Blick ins Gelände nach einem Sturzregen zeigt, wie die Wassermengen, die Wassertropfen regellos sich überstürzen, verlaufen. Nach Ansicht der Darwinisten macht auch die Natur Fehler, sie vertut sich in Mutationen, ist Fehlschlägen unterworfen, agiert nach dem bekannten Prinzip von trial and error, das zum Versuch, zum Experiment das Fehlschlagen, den Irrtum korrigierend hinzunimmt.

Natur – zeigt sich ihre Irrtumsneigung nicht bereits darin, dass sie den Menschen aus sich hervorgehen ließ, ein mit Sicherheit irregehendes, der Verwirrung sich zuneigendes Wesen?

Überzeugte Anhänger von Natur mögen einwenden: Natur verwirrt vielleicht, aber sie irrt nicht.

Doch vermutlich gehört die verbreitete Annahme, dass Tiere „wenig oder so gut wie gar nicht irren“ (der Lichtenberg zuneigte), ebenso unter die krassen Irrtümer wie Schumanns Behauptung „Der Verstand irrt, das Gefühl nie“. 
Auf ganz elementarem Niveau gibt es Anzeichen für eine Art natürlichen Wahnwitz: Werfen wir einmal einen Blick in die subelementare Dimension und lassen uns belehren, wie dort die Partikel wild und ziellos durcheinander rasen.
Selbst eine so ordentliche und gesetzestreue Wissenschaft, wie die Mathematik, zeigt Ungereimtheiten und Phänomene auf, die nachdrücklich auf Irren und Wirren hinweisen.

Die Wege der Primzahlen verlaufen sich im Unendlichen, die präzise Bestimmung der Zahl  pi, des Wertes, der sich ergibt, wenn der Umfang eines Kreises geteilt wird durch seinen Durchmesser, ergibt einen Dezimalbruch, wo der genaue Wert unerfindlich weit hinter dem Komma verbleibt.

Den Beweis dafür, dass nicht nur Natur, sondern dass sich ein ganzes Universum irren kann, treten die Planeten an. Sie haben ihren Namen von dem altgriechischen Verb für umherirrend.
Plános oder pláne bezeichnet eine unstete und ziellose Bewegung, die sich den Himmelskörpern in unserem Sonnensystem allerdings nicht nachsagen lässt. Dem Augenschein nach ist es zwar so, dass sie sich bald nach Osten, bald nach Westen bewegen, bald schneller, bald langsamer, gelegentlich auch am Himmel stehen bleiben. Aber in der Neuzeit erkannte erst Kopernikus den Zusammenhang zwischen scheinbarer und tatsächlicher Bewegung und die ihnen zugrunde liegenden Ursachen. Ein Sonderfall in der wissenschaftlichen Forschung. Denn meistens verhält es sich umgekehrt, dass augenscheinlich regelmäßige, harmonische oder symmetrische Vorgänge bei kritischer Sichtung und Erforschung sich als unberechenbar, regellos oder sogar regelwidrig herausstellen.

Für die großen Felsbrocken aus Urgestein, die da und dort in der norddeutschen Tiefebene herumliegen, lautet die gehobene Bezeichnung „erratische Blöcke“. Sie sind von den Gletschern, die in der Eiszeit von Skandinavien bis nach Mitteleuropa herabreichten, südwärts transportiert worden und dann unterwegs irgendwo liegengeblieben, als das Eis wieder zurückging. Ihr geläufiger Name Findlinge drückt allerdings das Gegenteil von verirren aus.

Der Satz „Natur verwirrt manchmal, aber sie irrt nie“ muss also auf jeden Fall abgeschwächt werden. Natur verwirrt als menschliche Natur und ist als solche Hauptanstifterin und Haupttäterin in allen Verwirrspielen, die das so instinktungesicherte menschliche Triebleben durchläuft.

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