Le Cornet à Dés
1. Ich sehe etwas :
Ich sehe: auf einem geäderten Sockel eine Vitrine. Das Innere ein Busch, in dem es brennt, ein Stacheldrahtklumpen, der sich in unzählige Spitzen verzweigt. Die Dornen stehen nach innen nach außen weit ab. Auf dem kurzgeschorenen Rasen vor der Vitrine, verloren im Gras und liegengelassen: ein beinerner Schuhlöffel. Im leicht gebogenen Stil Gravierungen, überdeckt von den Spuren eines sehr vagen Gebrauchs.
Auf der Vorderseite des Sockels sind eingegraben ein großes M und ein Punkt, ein großes J und ein Punkt. M steht für Max, J für Jacob oder für ‚Juif’.
Im schräg über den Rasen wandernden Licht werden die mit der Dunkelheit aufkommenden Buchstaben indigofarbene Schatten. Sie überschwemmen das Flachglas, die Höhlung des Löffels. Dann drehen sie sich, ein jeder für sich, wie Windräder in ihren Scharnieren, zerbrechlich und leicht wie Tanzende im Automatenballett.
Was ich sehe: ein Mal, ein Bild.
Noch während es den Schaukasten ausmalt (erinnert an Schneewittchens oder Lenins gläsernen Sarg) fällt der in den Schaft eines Bechers und zerspringt.
2. Die Würfel
Stehende Bilder, Sandkästen aus dem Leben Max Jacobs, Räume: “Ich entsinne mich meines Kinderzimmers. Die Musselinvorhänge am Fenster waren mit verschlungenen weißen Borten besetzt, und ich versuchte, darin die Buchstaben des Alphabets wiederzufinden. Wenn ich die Buchstaben erwischt hatte, verwandelte ich sie in Zeichnungen, die ich mir ausdachte. H, ein Mann auf einem Stuhl; B, ein Brückenbogen über einem Fluss. C, ein Hufeisen, mit dem der Mond spielt; D, ein Sack voller Wind.“
„In dem Zimmer standen mehrere Truhen, und offene Blüten waren leicht in das Holz geschnitzt. Meine Vorliebe aber galt zwei Pfeilerkugeln, die man hinter den Vorhängen gewahrte; ich hielt sie für die Köpfe von Kasperlfiguren, mit denen zu spielen verboten war.“
Ein anderes Zimmer, eine andere Vitrine. In ihr steht eine Stadt.. „Die Stadt hat Befestigungswälle aus bemaltem Holz; wir schneiden sie aus, um sie auf unser Buch zu kleben. Es hat zwei Kapitel oder Teile. Schau: ein roter König mit einer goldenen Krone, der auf eine Säge steigt; das ist Kapitel II; an Kapitel I kann ich mich nicht mehr erinnern.“
Die Hölle: „Ein Bäumchen in einem Holzkasten. Das Bäumchen ist mit Nelken, Ranunkeln, Schmetterlingen bedeckt, und die Sonne scheint durch seine Zweige. Dieses Arrangement ist ein Werk des Fürsten, es heißt Maibaum, und ganz Paris zieht daran vorbei. Der Fürst lässt seine Strümpfe aus seltenem Gewebe, seine Halbschuhe sehen. Jeder weiß, woher das Geld stammt, das für dieses Schauspiel ausgegeben wurde. Der Fürst war sehr überrascht über den Traum, den er in der darauf folgenden Nacht hatte: eine Art kochender Closetteimer stand auf dem Feuer, man hörte das siedende Öl zischen; darin wurde eine Ratte gesotten, die dem Fürsten glich.“
Zimmer, Kabinette, Kastanienbäume, das Leben Max Jacobs. 1903, 1916, die Zwanziger- und die Dreißigerjahre, 1944 stirbt er, mit dem gelben Stern auf der Brust, in Drancy, dem zentralen französischen Nachschublager von Auschwitz.
Sein Leben steckt im Würfelbecher, ‚Cornet à Dés’, an dem entlang er sein Leben lang schrieb. In einer Vielzahl offener Vitrinen zeigt es sich, wie ausgestellt.
Glaskabinett: nimmt man den Becher in die Hand, 1867, 1898, 1909, 1922, 1944, 1987, 1994 … – dann fallen sie heraus, nicht alle würfelförmig, aber hüpfend, mit Augen bedeckt. Ihre Bewohner sind Garderobieren, Zinnsoldaten, eine neapolitanische Bettlerin, die eigentlich ein grün angestrichener Holzkasten ist, Pferde, Marquisen, Vögel, Fliegen, kurzum Engel aus allen erdenklichen Materien.
3. Der Becher
Selbst nur ein Bild. Er kreist wie ein Zylinder. Mit jedem Wurf wird es anders.
Hier lebt Jacob zur Untermiete, als Astrologe, Katholik, Schwuler, Clown, Kanzleischreiber, Maler, Jude, Bretone, Mönch und Boheme.
„Im Kinematographen sagt man: ‚Ja, so ist das!’“
Hier holt er Wasser aus der Pumpe in zwei blauen Töpfen, geht weg, um ein Tablett für seine Lampe zu kaufen, aus der das Petroleum ausrinnt, unternimmt Luftreisen im Eiffelturm, erinnert sich, sieht in die Zukunft, die schwarz und voller Traurigkeit ist, finster wie das Innere des Bechers, ein Würfelspiel, das zwischen fremden Händen weitergeht. Der Becher kreist und mit jedem Wurf wird es anders.
Auch die Gärten, die um Mitternacht aus dem Becher herausfallen, verändern ihren Ort und ihr Aussehen, unversehens wie der Schrei des Kuckucks, der aus einer hölzernen Uhr ruft. Hier wächst, was niemand eingepflanzt hat, seltsame Spielarten und Blumen. „Das sind kleine liegende Menschen, hundert, das sind Spiegelreflexe. In meinem dunklen Zimmer ist es ein leuchtendes Weberschiffchen, das umherfährt, dann zwei …, phosphoreszierende Aerostaten, das sind Spiegelreflexe. In meinem Kopf ist eine Biene; die spricht.“
Der Würfelbecher: ein Kopf, ein Zylinder, ein Bienenkorb, eine Trommel voller Lose, ein Musikautomat, ein Horn, eine Wundertüte, ein ‚cornet à dés’, ein Füllhorn, ein Ding, „welches die freien Kräfte dessen, der sich ihm nähert, anzieht und aufsaugt.“
Zugleich ein Trichter, in dessen unterstem Ende Malströme, Zyklone und Schwarze Löcher einmünden.
Himmel und Hölle sind in Bewegung. Dazwischen Träumende, wie die schmelzenden Figuren in einem brennenden Wachsfigurenkabinett, wie Rauch, der zwischen Vorhängen und bedruckten Tapeten, zwischen Fenstersturz und einem gefallenen Cherub aufsteigt.
„Der herabschmetternde Erzengel fand noch gerade Zeit, seine Kravatte zu lockern: es sah aus, als betete er noch.“
Und der Rauch: – eine Katze, die gerade vorbeistreicht.
Die Gesichte und Träume Max Jacobs gehen aus und ein wie leichtfüßige Passanten. Sie sind so schwerelos wie die Augen oder weiß ausgestrichene Mulden, die in die sechs Seiten der Würfel versenkt sind.
Wurf und Fall greifen merkwürdig ineinander. Auf einer schwer zugänglichen, vielleicht astrologischen oder gematrischen Ebene, ordnen sich die geworfenen Augen und Punkt zu Zahlen, zu schicksalsmächtigen Zeichen.
Ein Spiel, das spielerisch Gerichte bereitet, strenge und wohlschmeckende, in Würfeln ausgekocht, in Bechern aus Pyrex servierbar. – „Manchmal, wenn du schnarchst, weckt die materielle Welt die andere auf.“
Im Aufwachen Max Jacob nach Max Jacob gefragt. Seine Antwort: er nimmt den Becher und drehte sich um, bis er groß und fest wie ein Blumentopf steht. Dann steigt er hinein, nun nur noch zur Hälfte zu sehen und bemerkt: „Im Gegenlicht betrachtet oder auch anders, gibt es mich nicht, und doch bin ich ein Baum.“
Im Verschwinden reicht der Baum aus seiner Krone ein gewinkeltes Sehrrohr, wie es die U-Boote haben. Das ist „Das Periskop von Mentana“.
„Das Periskop von Mentana ist eine unterirdische Grotte; der Rahmen aus Felsgestein, ein elegantes Rechteck. Der See ist aus Tusche und völlig überschaubar; von rechts und links neigen sich schräg in den Raum hinein zwei Seraphim mit schwarzem Angesicht, die sich in den Kopf stoßen, als Einfassung; am Fuß der Felsensäule und auf der Stufe sieht man einen unterlebensgroßen Bürokraten im Straßenjackett, der sich den kalten Schädel kratzt. Er erinnert ein bisschen an eine Schaufensterauslage. Das ist das Periskop von Mentana.“
*)alle Zitate aus Max Jacob, Der Würfelbecher, Gedichte in Prosa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, deutsch von Friedhelm Kemp. Titel der Originalausgabe: Le Cornet à Dés. Poèmes en vers et en prose. Paris: Editions Gallimard 1945, 1955, 1961.
Autor des Rahmentextes: Dietmar Becker, erschienen in “teraz mowie”, Hefte für Visuelle Poesie & Kunst, Nr. 13, „Lieblingsbücher und andere Poeme“, Berlin, Mai 1992