adventure / Abenteuer

Der Fluss führte bereits Eis. Die Schollen trieben zwischen den Ufern entlang und es gelang Washington, in kühnen Sprüngen von einer Scholle zur anderen über den Fluss zu setzen. Er schlug sich in die Wälder und kämpfte durch haushohen Schnee, als Indianer verkleidet, mit nichts als einem Gewehr in der Hand, das ihm zugleich als Stock und Stabsprungstab diente. Der nasse Schnappsack hing ihm über die Schultern und schlug bei jedem Sprung hart an gegen den Hinterkopf. Schnee schmolz in seine Kleidung, nachts fror ihm sein indianischer Überhang ein, vollgesogen von Schmelzwasser, klirrend von den Kristallen, die der Tieffrost im Gewebe aufwarf.
Er musste reißende Hänge überqueren und wäre vielleicht hängen und liegen geblieben, wenn ihn die Vision des Capitols, das freundliche und kluge Antlitz seines Nachfolgers Lincoln, das Winken der Stars & Stripes nicht herausgeholt hätte aus den Tiefen, in die ihn der Blizzard mit seinen Böen hinabstieß.
Tagsüber wies ihm ein notdürftig hergerichteter Kompass die Richtung des Himmels, die er einschlagen musste. Eine einfache, am einen Ende blau gestählte Nadel auf einem dürftig montierten, gerade mal handtellergroßen Zifferblatt. Aber das Ding funktionierte. Das bläulich getunkte Ende der Nadel schwang und zitterte sich verlässlich in die Gegend ein, die es zu durchqueren galt. Nachts hielt sich Washington an den Polarstern, an dieses funkelnde Ding am glitzernden Himmel, das umsaust war von Nordlichtern, von Meteoriten umschwärmt. Keine einfache Orientierung bei solch blitzender Kälte, bei solch elektrischem Funkengewitter.
Der Leitstern selbst meistens gar nicht zu sehen. Wälder, die ihre blattlosen Geäste beschwörend in den Nachthimmel hoben. Im Hellen und im Dunkeln ohne jeden Schlaf ging die Flucht. Drei Uhr nachts, als er eine Lichtung zwischen zwei Schluchten durchquerte, feuerte jemand auf ihn. Die Kugel – wenn es denn eine war – schlug unfern gegen eine felsige Wand und kehrte plattgedrückt zu dem Schützen zurück, um genau zwischen dessen Augen zu schlagen.
Schwindelnd und ausgehungert erreichte Washington den Fluss Alleghany. Eine plötzliche Flutwelle ergriff ihn vom Steilufer her, riss ihn auf eine Flussinsel. Er entschloss sich zu bleiben, um zur gegebenen Zeit den vereisten Strom passieren zu können. Endlich war es so weit, dass das Packeis trug. Über Gist’s Settlement kam er am bereits heimatlichen Potomac an. Wie im Traum, ohne Wunde, ohne Narbe, doch mit ausgefrorenen Gliedern gelangte Washington in die Hauptstadt, die damals noch nicht Washington hieß. Er ahnte, er war jetzt seinem Ziel, der Präsidentschaft über die nordamerikanischen Staaten, zum Greifen nah.

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