Malen gegen die Absence

Eines der großen Themen der Malerei ist die Abwesenheit dessen, was im Bild zur Darstellung gebracht wird. Kunst, und Malerei in einem spezifischen Sinne, hat mit Vergegenwärtigung zu tun, mit ‚präsent‘ machen.
Präsent hat in unserer Sprache nebenbei eine witzige Doppelbedeutung. Beide erfüllen sich in der bildenden Kunst, und dort am stärksten im Genre der Stillleben.
Ein Ursprung dieses Genres wird vermutet im altrömischen Brauch des Gastgeschenks, und zwar nicht in der Gabe, die der Gast dem Gastgeber mitbringt, sondern im Geschenk, das der Gastgeber seinem Gast zukommen lässt, gleichsam zur Bewirtung und als Willkommensgruß. Diese Dinge zogen die Aufmerksamkeit der damaligen Maler auf sich, vielleicht wegen des kunstvollen Arrangements von Lebensmitteln und Getränken unterschiedlicher Provenienz.
Man nannte diese antike Frühform der Stillleben Xenien. (1)
Malerei holt in die Gegenwart herein: Weingläser, Blüten, Sträuße, Trauben, erlegtes Wild, Alltagsutensilien, vor allem aber Verwelkendes und Verderbliches, Vergängliches, in dem die Schönheit dieser Welt erstrahlt wie in einem Feuerwerk. Aber das Feuerwerk erlischt, während im Stillleben das Vergängliche eine Dauer erlangt, die die Dauer übersteigt, die der Kreatur, dem Geschöpflichen, dem Erblühten vonseiten der Natur, dem Gepflückten, Erjagten und Erlegten vonseiten der Menschen vergönnt ist.
Dieser Aspekt der dauerhaften Vergegenwärtigung hat die frühen Maler und Theoretiker der Kunst außerordentlich fasziniert. Es liegt in dieser Möglichkeit der Verewigung, in dem Können dazu, ein fraglos magisches Moment, eine Art Beschwörung, die den Jagdzauber, den die Höhlenmaler in Anwendung brachten, auf einer anderen Ebene fortführt.
Die steinzeitlichen Zauberer versuchten in ihren Skizzen Einfluss zu nehmen auf das, was sie darstellten. Nichts anderes meint Magie: das Abbild als Bann. Es trifft das Sujet und hält es in einer Gegenwart fest, die sich praktisch unendlich in die Zukunft verlängert. Die Blumensträuße, die die niederländischen Stilllebenmaler vor Jahrhunderten malten, stehen noch heute in Blüte.

„Federico Borromeo (1564-1631), seit 1595 Erzbischof von Mailand, hatte in den 1590er Jahren in Rom begonnen, Gemälde zu erwerben. Seine Vorliebe für Landschaften und Stilleben begründet er mit mangelnder Zeit für Studium und Gebet in der Natur. In der autobiographischen Schrift Pro suis studiis schildert er seine Gewohnheiten im Studiolo. Blumenstilleben waren ihm akzeptable Substitute, falls die echten Objekte nicht verfügbar waren. Die Malerei, die die Schönheit der Blumen aus dem Fluß der Zeit befreit und in dauerhafte Bilder überträgt, macht Farben dauerhaft, was Borromeo als Steigerung gegenüber natürlichen Blumen empfindet.“(2)

Eine ungewöhnliche Funktionsvariante: Stillleben als Andachtsbilder. Doch eine Auffassung, in der das Kunstwerk keineswegs ‚zweckentfremdet‘ wird, sondern hinführen soll zum Unsichtbaren, zumindest momentan Unsichtbaren. Stillleben versammeln in sich oft recht heterogene Dinge, die von ihrer Herkunft her auf Vergänglichkeit, Sterblichkeit und Tod verweisen, dabei zugleich zu einer Meditation auffordern, die diese verwesenden und vergehenden Dinge anwesend macht, sub specie aeternitatis, also unter dem Gesichtspunkt der unendlichen Dauer oder Ewigkeit betrachtbar.
Im Unterschied zum Erblühen und Welken, das die Natur vorspielt, liefert Kunst einen Vorgeschmack von Dauer und Bleibe.

Das was wir wünschen, wollen, begehren ist in der Realität immer absent. Die Ziele, die eine Absicht oder ein Trieb vorgibt, sind entfernt. Sie liegen entweder in einer paradiesischen Vergangenheit, im Reich einer glücklichen Kindheit, oder aber in einer Zukunftsferne, die manchmal utopisch, ortlos anmutet oder durch religiöse Vorstellungen als Himmelreich oder Jenseitswelt andeutungsweise präzisiert wird.
Im Hinblick auf diese vielfachen Abwesenheiten schafft die Malerei zwar keine vollständige Abhilfe, aber doch einen immer wieder als hinreichend und beglückend erlebten Ersatz.

Die besonders in der Stillebenmalerei zur Geltung kommende Intention des Malens gegen die Abwesenheit verdient auch unser kunsttherapeutisches Interesse.
Was in der Außenwelt als abwesend vermisst wird, hat allemal ein seelisches Pendant. Doch sollte das Gestalten wider die Absence sich nicht bloß auf das Herbeiziehen angenehmer Dinge und Gefühle beziehen, sondern könnte auch in den Dienst einer thematischen Be- und Verarbeitung unangenehmer, schmerzlicher oder weggeschobener seelischer Inhalte gestellt werden.

„Die wohl stummste Gattung der Malerei, die sich am demütigsten mit dem Sehen und der künstlerischen Arbeit auseinandersetzte, führte schon beim Versuch, ihre Namen zu verstehen, zu babylonischer Sprachverwirrung.“

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[1] König/Schön, Stilleben, 103. Dazu Vitruv (um 25 v.Chr.) in De architectura: „Denn da die Griechen luxuriöser und vom Glück mehr mit Reichtum gesegnet waren, pflegten sie für die Gastfreunde, die von außerhalb zu Besuch kamen, Speisezimmer, Schlafzimmer und Speisekammer mit Speisevorrat einzurichten. Am ersten Tag pflegten sie zur Mahlzeit einzuladen, am folgenden Hühnchen, Eier, Gemüse, Obst und andere ländliche Erzeugnisse in die Gastwohnung zu schicken. Daher nannten die Maler, wenn sie das, was man den Gastfreunden zu schicken pflegte, auf einem Gemälde nachahmten, Xenia.“
Ein wenig von diesem Brauchtum hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine eigentümliche Wiederbelebung erfahren in den sogenannten ‚Präsentkörben‘.

[2] König/Schön, Stilleben, 129

[3] König/Schön, Stilleben, 36

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