unterwegs

Der Mensch habe keinen Hausfrieden in sich, bestätigt Matthias Claudius im Gespräch mit seinem Vetter. „Und uns selbst bringen wir allenthalben hin, uns selbst treffen wir überall an.“ * Man wird sich nicht los und die Bürde, die man sich selbst ist, lässt sich nicht abschütteln. Gerne würde man an einem Ort einmal ganz unbekannt und unvoreingenommen auftreten, als Neuheit, als echte Überraschung – aber es will nicht gelingen. Der Besserwisser, der einem auf den Fersen ist, spuckt überall in die Suppe. Ihm ist alles zum Überdruss bekannt. Wohin auch immer man kommt, er tritt einem gelangweilt aus allem entgegen.

Allerdings ist bei manchen, manchmal sogar bei denselben Personen das Entgegengesetzte der Fall: Man bricht fortwährend auf und kommt doch nimmer an. Es sind leere Ankünfte. Gerne sähe man ein bekanntes Gesicht, es könnte auch mal das eigene sein. Aber nicht einmal Fratzen gibt es zu sehen. Als wäre man losgezogen ohne sich selbst, als hätte man sich liegen- oder stehengelassen und als bloßes Phantom auf den Weg gemacht, gleichsam entkernt, seinem eigentlichen Dasein entrissen.

Man kommt auf Gedanken, ohne sie vorher zu kennen. Vielleicht sind es Reste, Trümmer von Einfällen, die jemand anders gehabt hat. Sie sind unbeachtet liegen geblieben. Eine einfallsreiche Person. Sie hat dann besseres zu tun gehabt. Es sieht aus wie nach einem überstürzt verlassenen Picknick. Eine Flurgötterspeisung. Kaltschalen. Pappbecher dreht ein unbeschäftigter Wind im Kreisel.

Im Hintergrund ein Tempel ohne erkennbaren Eingang. Vielleicht eine Biogasanlage. Die grüne Folie, die sich über die Kuppel spannt, wirft Ornamente, die aus der Alhambra entwendet sein könnte. Hoch in der Luft schwebt ein Drache und wedelt.

Unten im Schatten hat man glasierte Tontäfelchen gefunden. Am Rande. Der nicht ersichtliche Eingang soll einmal von großen künstlichen Tieren bewacht gewesen sein. Dann hat sich ihre Bewachung als überflüssig erwiesen. Den Eingang hätte ja doch niemand gefunden. Man hat sie eingezogen und zur Inspektion der Radarfallen eingesetzt, die überall im Lande verteilt sind.

Es gibt auch noch andere Wesen im Tempelbezirk. Seit Jahrhunderten im Tiefschlaf. Einige Jahrtausende mussten sie wachend zubringen. Darüber sind sie eingeschlafen. Die ganze Zeit über ist rein garnichts passiert. Sie haben lange gegen das Eindämmern angekämpft. Zuletzt, das war vor einigen hundert Jahren, hat es sie überwältigt. Auf den Stellen, wo sie postiert waren, sind sie mit einem Schlage eingeschlafen. Seitdem holen sie den versäumten Schlaf nach. Es kann weitere Jahrtausende dauern, vagen Berechnungen nach, bis sie wieder hervortreten aus dieser Abwesenheit, die sie restlos verschlungen hat, samt ihren Hauern, Pfoten, ihrem Schwanzwedeln und spitz aufgerichteten Ohren.

*) Matthias Claudius, Passe-Tems, in: Merkprosa, Hg. W. Berthel, 106

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