eine soziale Zwangsvorstellung

„In einem von Kräften durchflossenen Gemeinwesen führt jeder Weg an ein gutes Ziel, wenn man nicht zu lange zaudert und überlegt. Die Ziele sind kurz gesteckt, aber auch das Leben ist kurz, man gewinnt ihm so ein Maximum des Erreichens ab, und mehr braucht der Mensch nicht zu seinem Glück, denn was man erreicht, formt die Seele, während das, was man ohne Erfüllung will, sie nur verbiegt …“
Musil lässt ein imaginäres Gemeinwesen entstehen, halb Utopie, halb schauerliche Wirklichkeit: „eine überamerikanische Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht“. *
Schön, dass dort alles von Kräften durchflossen ist, die offenbar allen zur freien Verfügung stehen. Allerdings ergibt sich aus der energetischen Essenz dieses Utopias, dass ein möglichst nützlicher, ein möglichst gemeinnütziger Gebrauch davon gemacht werden sollte. Das beinhaltet den Appell an jedes Teil dieser Gesellschaft, mit dem gemeinsamen Gut sparsam umzugehen. Eine Skala, an der sich ablesen lässt, was sinnlose Verschwendung einerseits und ökonomische Nutzung andrerseits sind oder sein könnten, gibt die Zeit. Sie ist allen zur Verfügung gestellt, aber gleichsam nur leihweise. Über jedem unbesonnenen Verbrauch hängt das Damoklesschwert des Zeitentzugs. Die ohnehin streng bemessene und zugeteilte Zeit wird den Nutzern nur noch in schmalen Kanten und Quanten überlassen. Daraus ergibt sich: sie haben keine Zeit mehr. Zeitknappheit zwingt sie, langfristige Zielvorstellungen zu streichen, überhaupt die Vielfalt der Ziele auf möglichst wenige zusammenzupressen, auf ein Hauptziel. Dieses versucht der zeitknappe Mensch durch weitere zeitökomische Maßnahmen, durch Methoden der Portionierung und Rationierung, bzw. Rationalisierung, auf der allerkürzesten, streng gestrafften Strecke zu erreichen. An der erfolgreichen Projektierung eines Ziels und der glatten Durchführung der Strecke ermisst sich Erfolg und Scheitern einer Persönlichkeit.
Diese Zurichtung des Lebenswegs auf den vorgenommenen Zweck – der sich auch einfügen sollte ins Mosaik gesellschaftlicher Produktivverhältnisse – trägt den uns hinlänglich bekannten Namen „Karriere“. Eine Bezeichnung, wodurch die alte und altmodisch gewordene Bezeichnung „Laufbahn“ beiseite geschoben, buchstäblich überfahren worden ist. Mit Karacho auf der Karriere – der Grundbedeutung nach ‚Fahrbahn, Fahrstraße‘, die den Verkehrsteilnehmern die Möglichkeit eines raschen Vorankommens geben soll.
Fußgängerei gibt es auf diesen Schnellwegen nicht mehr. Sie ist zwar nicht strikt verboten, aber auf Nebenschauplätze verlegt, Freizeitparks und Unterhaltungsreviere. Die Bedeutung der Karriereziele besteht darin, dass dies die Orte sind, an denen eine Ausschüttung von Geld und Geltung erfolgt. Geld gibt ein Anrecht auf zusätzliche Zeitzuteilungen, Provisionen, die von karriere- und zielbewussten Personen eingesetzt werden, um den Schwung, den sie auf der Zielgeraden gewonnen haben, über das Ziel hinaus in schwindelhafte Höhen fortzusetzen, die ihnen eine kühne Spekulation weist. Andere bescheiden sich mit dem Erreichten und setzen das ihnen aus dem Ziel zufließende Geld, diese Anteile am gesellschaftlichen Wohlergehen, zur Vermögensbildung und Zukunftssicherung ein. Das Vermögen beschert ihnen einen Vorgriff auf das, was einst als gesellschaftlicher Ertrag vorliegen wird. Im Prinzip ein Buchungsverfahren.

In all diesen hohen Anstrengungen zeichnet sich der Wunsch nach Meidung von möglicher Verfehlung von Vorhaben ab, die man vielleicht gar nicht vorgenommen hat. Aber das ist es ja. So steht man sich besser ohne großes Vornehmen und Wegträumen. Allem, was von der Schnellstraße wegführen könnte, ist der Stempel des Provinziellen, des Abwegigen aufgedrückt. Es rückt in die Nähe von Zeitverlust und sträflicher Gemeinwesensenergieverschwendung. Davor haben wir uns zu hüten und tun das auch als gemeinsinnig gehaltene Wesen.

*) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 31 (Buch I, Kap. 8)

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