MENSCHENBILDUNGSLEHRE

„MENSCHENBILDUNGSLEHRE. Um die Stimme zu bilden muss der Mensch mehrere Stimmen sich anbilden – dadurch wird sein Organ substantieller. So um seine Individualität auszubilden muss er immer mehrere Individualitäten annehmen und sich zu assimilieren wissen.“ *
Jede Stimme ist individuell, bis hin zum Rauschen, zum Beispiel eines Regens, in dem sich die Stimmen zahlloser Tropfen mischen, Rauschen eines Waldes, durch den Zusammenklang unzähliger Blätter und Nadeln hervorgerufen usw. Uns fehlt offenkundig das Vermögen, zwischen dem Rauschen zweier Brandungen zu unterscheiden. Wir haben nicht einmal für das Rauschen des Windes in einem Nadelwald, bzw. in einem Laubwald alternative Bezeichnungen. Unseren Ohren klingt offenbar alles Rauschen so ähnlich oder gleich, dass wir hier auf Differenzierung verzichten. Das könnte auch ganz anders sein. Die Eskimos sollen in ihrer Sprache als Bezeichnungen für den Schnee zahllose unterschiedliche Wahlmöglichkeiten haben. Ebenso Völkerschaften in Wüstengegenden für den Sand in seinen unterschiedlichen Körnungen, Schattierungen, Beleuchtungen.

Jede menschliche Stimme, lehrt Novalis, ist individuell, und sie ist es umso mehr dadurch, dass in ihr unterschiedliche Stimmen verschmolzen, assimiliert sind.
Diese Assimilation geschieht weitgehend unwillkürlich. Sie beginnt, wie wohl zu Recht angenommen wird, bereits im embryonalen Zustand des Menschenkindes. Sie setzt sich fort in der Aneignung der Mundarten, die das Kind in seiner Umgebung vernimmt. Adaption, Anpassung und Aneignung gehen Hand in Hand. Im Gesangsunterricht wird der Stimmerwerb, die Erweiterung der stimmlichen Fähigkeiten methodisch fortgesetzt. Dabei meint jeder Zuwachs an Stimme einen Zuwachs an Individualität, wie jeder Zuwachs an Individualität danach strebt, diese Anreicherung in der Stimme gleichsam zu Wort kommen zu lassen.

*) Novalis, Schriften, Hg. Hans-Joachim Mähl, Darmstadt: WBG 1999, Bd. 2, 524

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