Der Horizont ist weit von den Hüften des Chamäleons entfernt. Wie in Zeitlupe. Es steigt aus dem obersten Himmel Ast für Ast herab mit seiner Botschaft. Es ist ein ungeheurer Raum zwischen Himmel und Himmel und wie viele es sind kann niemand zählen. Die Zweige, auf denen es aus der Höhe zur Erde hinab geht, sind schwankend und dünn. Schwindel kennt das Chamäleon nicht. Es ist bedacht. Jede Bewegung schließt sich fließend an die vorangehende an. Ein zäher, ein verlässlicher Strom, in dem der Bote herabsteigt.
Mit einer Botschaft unterwegs, die ihm Gott eingeschärft hat. Im Gehen denkt es darüber nach, über die Kunde, die es überbringen soll, die es auswendig und inwendig mit sich führt.
Worte sind da, um sich zu erfüllen und um anzukommen, wo sie vernommen werden.
Dies ist eine Botschaft für Ungeborene und Nachgeborene, für Lebende, Gebärende und Sterbende:
„Ihr Menschen sterbt. Aber ihr sterbt nicht für immer. Ihr werdet von dort, wovon ihr nicht wisst, wohin ihr geht, weitergehen. LEBEN, ihr wandelt, verwandelt euch.“
Worte, in die Städte und aufs platte Land zu bringen. Wie versammle ich diejenigen, denen sie gelten?
Ein unablässiger Hauch weht durch die Himmel und bewegt die Zweige, auf denen das Chamäleon erdwärts steigt, chamai. Der Abstieg ist zäh, voller Löcher und Abgründe zwischen den Astgabeln, zwischen den Verzweigungen, die sich in die Weite und Tiefe verästeln.
Es steigt schleichend hinab. Es hat, wie alle Boten in weltbewegenden Angelegenheiten, an Nahrung keinen Bedarf. Der Auftrag nährt es, die der Sendung inhärente Bedeutung.
Die Nachricht, die für die Menschheit bestimmt ist, ist unendlich wichtig. Um sicherzustellen, dass sie die Adressaten erreicht, schickt Gott einen weiteren Boten, einen Ersatzboten los. Er flüstert dem Hasen in die aufgerichteten Löffel, was er den Menschen ausrichten soll. „Ihr sterbt. Aber fürchtet euch nicht, ihr lebt wieder auf. Euer Sterben ist eine winzige Zeit, euer Leben für immer. Euer LEBEN, ihr wandelt, verwandelt euch.“
Der Hase hoppelt eilfertig los. Doch schon im Himmel darunter hat der unablässig wehende Wind ihm die Botschaft aus den Löffeln geweht. In großen Sprüngen eilt er der Erde zu und wagt Sätze, in denen er den Rest der ihm eingegebenen Sätze bis auf die ersten paar Worte verliert.
Lange vor dem Chamäleon langt er an in der Tiefe, aus der die Erde sich wölbt und wo die Menschen ihren Geschäften nachgehen, zu leben, sich zu vermehren, zu sterben.
Die Ankunft des außerirdischen Boten versammelt sie auf dem Platz, wo dieser gelandet ist.
Er erstrahlt in göttlicher Vollmacht und spricht von der Botschaft die Worte, die ihm noch in Erinnerung sind. Ein kleiner, aber kostbarer Rest. “Ihr sterbt“, spricht er zu der versammelten Menschheit. Die Pause, in der sich der Hase zu besinnen und zu erinnern versucht, währt endlos. Auch das auf das Hören der Botschaft einsetzende betroffene Schweigen währt und währt und hört einfach nicht auf.
Einige Sphären und Himmel darüber ist das Chamäleon unterwegs, noch immer bedacht, gleichförmig einen Fuß vor den anderen setzend. „Es ergreift die Zweige mit seinen Fingern und bewegt sich sehr vorsichtig weiter, ohne Laute von sich zu geben.“ *
Im Fluss seiner Bewegung strömt Unendlichkeit dahin, eine, auf der die Botschaft an die Menschen segelt wie ein aus Papier gefaltetes Schiff.
Doch eines Tages ist die Sphärenreise beendet. Das Chamäleon ist unter den Menschen angekommen. Sie versammeln sich um dieses Wesen, das unter ihnen aufgetaucht ist wie von einem anderen Stern, wie aus einem anderen All. Doch es spricht ihre Sprache und in dieser Sprache wiederholt es die Verheißung, die ihm eingegeben ist, für die es mit seinem ganzen Sein einstehen kann. „Ihr sterbt“, sagt es, und für die versammelte Menschheit sind es die bereits bekannten Worte, die ihnen der Hase eingeimpft hat. Sie wenden sich verdrießlich ab. Diese Nachricht brauchen sie nicht. Sie leben sie bereits, von Geburt an auf den Tod hin strebend und sterbend. Das braucht ihnen, einmal gesagt, niemand noch einmal zu sagen. Doch dann fährt das Chamäleon, ihrer Abwendung gewahr werdend, fort und liefert die ganze Botschaft unter den Hörenden ab.
Aber das Publikum ist durch die Erfahrungen, die ihnen der Tod seit der Verkündigung des Hasen eingebracht hat, harthörig und verbittert geworden. Was ihnen einmal gesagt und eingeschrieben ist, lässt sich nicht überschreiben. Tagtägliche Erfahrung lässt sich nicht in eine Zuversicht umschreiben, die über die Gewissheit des Todes hinausreicht.
Bei einigen geht etwas auf, was wie Hoffnung ist, ein heller Dunst, ein Weih-Rauch.
Wieder andere sind durch den bloßen Anblick des Boten so fasziniert, dass ihnen die Worte ohne Bewusstsein eingehen. Leben. Wandeln. Verwandeln.
Ihr Staunen gilt diesem wandelnden Wesen aus einer anderen Welt, der darin wie Morgenröte aufscheinenden Frühe.
Andere verwundert das Aussehen, weil es sie an einen Cherub erinnert, der einst in ihrem Heiligtum erschienen sein soll.
Die Mehrzahl packt die Worte irgendwie weg, verschnürt und verstaut, eingewickelt ins Zwerchfell, aufgehängt unterm Scheitelbein, wo es zwischen Augen und Ohren still pendelt, wenn sie aufrecht ihrer Wege dahin gehen.
Vom Chamäleon wird weiter erzählt, es sei nach einigem Aufenthalt auf der Erde zurückgekehrt. Gewiss, es ist immer noch da, im Zoo, in Afrika, in vielen Exemplaren und Arten vertreten.
Aber richtig ist, dass es auch zurückgekehrt ist, um Bericht abzugeben an höchster Stelle.
Nun darf man neugierig sein, was weiter geschieht.
Was nicht geschieht, lässt sich leicht voraussagen: dass dem Hasen irgendwann in der Grube oder im hohen Gras hockend, das Vergessene wieder einfallen sollte.
Wie auch?
Er hat es niemals auswendig gekonnt und hat mit dem Tod seinen Frieden geschlossen.
Der hat ihm reichliches Zeugen und Gebären beigebracht, Kindersegen, und an Ostern wird unter den Menschen seiner gedacht. Ein üppiges Dasein, das Sterben und Tod inkludiert.
Wie jedoch geht man im Himmel mit dem Widerspruch der Botschaften um?
Sind doch beide Gotteswort und in Gottes Namen verkündigt, unwiderruflich, bei Gott gibt es keine Dementi.
So bleibt letztlich und bis in Ewigkeit, so es ein letztes Ende oder einen Jüngsten Tag gibt, alles irgendwie offen – was bestimmt nicht das Schlechteste ist.
*) Jan Knappert, Lexikon der afrikanischen Mythologie, s.v. Chamäleon