Das Sein ist eine sprachliche Konstruktion. Es ist aus einem Hilfsverb hervorgegangen, vielmehr hervorgezogen worden. Dieses da und jenes dort ist, du, ich und wir sind ebenfalls, aber jeder, jede und jedes auf unterschiedliche Weise. Die unterschiedlichen Weisen und Arten lassen sich nicht zu einem allgemeinen Sein zusammenfassen. Das Sein stellt eine den einzelnen Zuständen und Existenzformen unangemessene Verallgemeinerung dar.
Darauf kommt man nicht so schnell von selbst, so lange innerhalb der Horizonte gedacht wird, die von der eigenen Sprache abgesteckt werden. Da ist es eine große Hilfe, dass der Gesichtskreis, in den das Denken deutscher Ontologen gezwängt hat, erweitert werden kann durch Erfahrungen, die jüdische Denker in hebräischer Sprache vorgefunden haben.
„Die hebräische Sprache kennt keine Zeitstufen im Sinne von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, sondern nur den Aspekt des Erzählens (der vollendeten Handlung), und den des Möglichen (des Sollens, Dürfens, Müssens, Könnens, aber auch der Zukunft, die ja auch noch nicht ist). Der Zugang zum Erlebten ist daher ein grundsätzlich anderer als in Sprachen, die mit dem Verb ‚sein‘ ständig umgehen. Es gibt ein Verb ‚sein‘, doch wird es kaum je verwendet. Der Zugang zur Welt besteht in Geschehenem und Möglichem. Utopie, Geschichte in jedem Atemzug. Allgemeinbegriffe, die in der griechisch geprägten Philosophie eine so große Rolle spielen, dass manche Philosophen sich auf das Entlanghangeln von einem Begriff zum anderen beschränken, sind hier, weil lebensfremd, fast unbekannt.“ *
Wir hören, dass das Sein als aus einem Hilfsverb entwickelter Hilfsbegriff gedacht werden kann als Akkumulation unendlicher Vorgänge und sich und einander abwandelnder Zustände. Ein unbegreifliches, ein ungeheures Werden in alle ‚Himmelsrichtungen‘, in allen Modi der Zeit. Denn auch Vergangenes steht nicht still, bleibt sich nicht gleich. Es gibt ein Werden ‚in die Zukunft hinaus‘ und ein Werden ‚in die Vergangenheit zurück‘. Es bestehen auch Gegenwart neben Gegenwart, ohne dass sie einander ausschließen, ohne dass sie einander begegnen, jetzt nicht und vielleicht erst in einer späteren Gegenwart, für die es jetzt noch gar keine Erwartung gibt.
*) Frank Miething in E. Lévinas, Außer sich, 208