Der Kopist

Beim Besuch des Isenheimer Altars von Grünewald trifft Canetti auf einen Menschen, der sich vor den Flügelaltar gesetzt hat, um daraus zu kopieren. Die Anwesenheit dieses Mannes bringt Canetti in Verlegenheit. Während der Mann, sein Gesicht, sich „mit dem Unermesslichen, das es nie aus dem Auge ließ, als Handwerk beschäftigt“ *, steht Canetti selbst, als bloßer Besucher, merkwürdig untätig herum, störend und durch den Dasitzenden gestört zugleich.
An diese Begegnung knüpft Canetti eine kurze Betrachtung des Kopisten. Er schildert, wie es zu dessen Tätigkeit gehört, das Bild, was er wiedergeben will, zu zerlegen. Dabei muss er notgedrungen das Ganze aus dem Blick verlieren. Beim Kopieren gibt es „Zeiten, in denen er das Ganze gar nicht sehen kann, da er von einer Einzelheit eingenommen ist, auf deren Genauigkeit es ankommt.“
Auf dem Weg zum Detail und bei dessen Wiedergabe geht der Gesamtzusammenhang, in dem allein das „Unermessliche“ gründet, verloren. Daher die frappante Bemerkung: „Der Kopist ist Schein.“
Er führt, wie der Schauspieler, eine uneigene, eine uneigentliche Existenz. Sein Sehen hält eine eigentümliche Distanz zum Gegenstand ein. Es sieht „so, dass es ihn nicht verändert. Würde es ihn verändern, er brächte die Kopie nicht zustande.“ Diese Distanz oder Ab-wesenheit ist notwendig, um nicht hineingezogen zu werden in all die Strudel und Turbulenzen, die ein echtes Sich-Einlassen mit sich brächte. Dieses artifizielle Sich-Heraushalten hat Dürer auf exemplarische Weise zur Darstellung gebracht in seinem Stich „Der Maler des nackten Weibes“. Das paradoxe Bestreben, sich durch den Gegenstand, durch Motiv und Beweggrund eben nicht bewegen und beeinflussen zu lassen, findet sich im Typus des neuzeitlichen Naturwissenschaftlers ausgeprägt. Ebenso im Techniker, den seine Methode und sein Instrumentarium auf Abstand hält und neutralisiert.
Das Bestreben, sich nicht affizieren, sich nicht vom Gegenstand anstecken zu lassen, ist dem Zugang des Künstlers ganz entgegengesetzt. Dieser erfährt sich in der Auseinandersetzung mit Stoff und Sujet. Er verändert und verwandelt sich in dem Maße, wie diese sich verändern und verwandeln. Das klassische wissenschaftliche Experiment jedoch fordert, dass ein Experimentator, um korrekte Ergebnisse zu gewährleisten, ‚derselbe‘ vor dem Versuch und nach dem Versuch sei. Die Einhaltung dieser regulativen Identität soll korrekte Messung und präzise Ergebnisse garantieren. Sie gewährleistet die naturwissenschaftlich geforderte Wiederholbarkeit des Experiments.

Den Typus des Kopisten im strengen Sinne gibt es eigentlich erst in der Neuzeit. In der geschichtlichen Bewegung auf die Gegenwart zu schält sich ein immer reinerer Typus des Kopisten heraus. Dieser entwickelt sich zu einer Vorrichtung, in der alle Veränderlichkeiten und Unregelmäßigkeiten, die menschliches Kopieren mit sich führt, durch die Apparatur eliminiert sind. Das technische Gerät, der Kopierer, dessen Prototypen Xerox marktfähig gemacht hat, ist als Vervielfältigungsapparatur und Serienproduzent jedem Menschenwesen haushoch überlegen. Inzwischen findet sich die Technik des originalgetreuen Wiedergebens in allen Bereichen unseres zivilisatorischen Lebens. Der Klon deutet an, in welche Richtung das immer präzisere Reproduzieren lebendiger Materie zu denken ist.

*)Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, München: Hanser 1982, 260

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