Bildtafel Nr. 57

Gegenwärtiges Gestaltungsprojekt: „Bilder-Atlas“. Darin kürzlich Tafel Nr. 57 fertiggestellt.

Heute ist mir ein Titel dazu eingefallen. Er bezieht sich auf eine männliche Figur, die auf der Tafel zu sehen ist. Ein nackter junger Mann, mit einer windelartigen Unterhose bekleidet. Auf der Tafel, in der er steht, herrscht ein großes Getümmel von Figuren, die sich winden und verrenken zwischen schwarzen Linien, die ebenfalls kurvig und gewunden über die Tafelfläche laufen. Die Tafelfläche ist durch breite schwarze Bänder in Bildfelder unterteilt. Die Bänder verlaufen insgesamt gesehen horizontal und vertikal. Auch sie drehen sich, so dass sie manchmal breiter, manchmal dünner erscheinen.

Auf den Feldern tummeln sich antike Figuren, die im Original in feinen Strichen wiedergegeben sind. Der originale Obertitel in der Kopfzeile der Tafel ist THEATER. Das erklärt, warum hier so viel los ist.

Der unzureichend bekleidete junge Mann wirkt ein wenig unbeholfen, wie eine hilflose Zutat zu einem Treiben, das mit ihm eigentlich nicht zu tun hat.

Dieser so ohnmächtig wirkende Mensch ist der SEHER. So heißt die Tafel, ursprünglich THEATER genannt, jetzt SEHER.

Mehr noch als der windelartige Slip des Mannes fällt die schwarze Augenbinde ins Auge, die dem Mann umgetan ist. Wer hat sie ihm umgetan? Warum trägt er sie? Warum streift er sie nicht einfach ab mit den Händen, die untätig an seinen Armen links und rechts der Hüften herabhängen?

Der Mann ist ein Seher und kein Redner, deswegen kann er uns nicht antworten. Oder er kann es wohl, tut es auch, aber wir können ihn nicht hören. Das ist, wie uns die Geschichte lehrt, bei Sehern öfters der Fall. Man sieht sie, erlebt sie sogar, aber sie sind nicht zu verstehen.

Dieses Unverständnis hat nichts zu tun mit der räumlichen oder zeitlichen Entfernung, aus der sie zu uns sprechen. Es hat zu tun mit der Blindheit, mit unserer Blindheit, in welche die Seher entrückt sind und aus der sie zu uns sprechen, unseren Herzen und Hirnen zuzusprechen sich anstrengen. Es hat aber auch mit der Dunkelheit zu tun, in die sie durch die Augenbinde versetzt sind.

Die Augenbinde ist symbolische Zurichtung. Ihr eigentlicher Zweck besteht darin, den SEHER unkenntlich zu machen, ihn anonym zu halten. Anonymität ist heute mehr denn je Voraussetzung für echte Seherschaft.

[Das erklärt, warum Witze und Rätsel ohne Verfasser und ohne Autorinnen zur Welt kommen und weitergegeben werden].

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