Silvester und Neujahr

Zwischen dem scheidenden Jahr und dem neuen Jahr gibt es eine Fuge. Das ist ein unendlich winziger Moment, doch winzig und unendlich zu gleich. Um in diese Kluft nicht hinabzustürzen und unter Umständen für immer verloren zu gehen, haben die Menschen seit Beginn der Zeitmessung, die sie den Sternen entnahmen und aus dem Gang der Himmelskörper errechneten, Rituale erfunden, um über diesen riskanten Moment, in dem das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht ist, hinüber- oder hinwegzukommen. Die Mutigen nehmen den Abgrund dazwischen seit jeher im Sprung. Doch noch mutiger sind die, die immer wieder versuchen, diesen Zwischenraum zwischen den Jahren zu erkunden.

Dieses Niemandsland oder Nichts wird gemeinhin bezeugt durch den Lärm und das Feuer, die gemacht werden, um diesen unheimlichen Moment zu überstimmen und auszublenden.

Eine gähnende und finstere Leere, von einer Art Todesschweigen erfüllt. Deshalb setzt man Feuerwerkskörper ein, Knallfrösche und vielfältige Leuchtmunition wird im Handel angeboten, sei es, um die Kluft in Vergessenheit zu bringen, sei es, um eine Brücke über das Schrecknis zu schlagen, von hüben nach drüben.

Vielleicht auch, um dem Phänomen des Übergangs aus der alten Zeit in die neue entgegenzuarbeiten oder auf abergläubische Weise mitzuwirken an einem Ersatz für die schlagartig entschwundene Zeit.

Eine Kluft, in anderen Jahren eine Fuge.

Für das Sterben und für das Geborenwerden haben wir in unserer Welt unterschiedliche Orte vorbehalten.
Wir haben sehr subtile Trennungen eingeführt zwischen den Orten, wo gestorben wird und den Orten, wo Geburten stattfinden.
Absterben und Neuwerden bleiben inkompatibel, obwohl sie denselben Zeitpunkt einnehmen. Also Trennung muss sein, säuberliche Trennung, eine Scheidung per Kunstgriff.

Wir erleben einen Jahreswechsel – haben einen Jahreswechsel erlebt – bei dem die üblichen Verabschiedungs- und Begrüßungsrituale nicht nur außer Kraft gesetzt, sondern gesetzlich verboten und als straffällige Handlungen geahndet worden sind.  Deshalb ist der Übergang von 2020 zu 2021 ein ungesicherter, ja geradezu ungewiss gebliebener.

Wie soll man nun das Neue, das da kalendarisch kommt, unterscheiden können von dem Alten, das seiner Natur und Bestimmung nach vergehen soll oder vielleicht such schon vergangen ist?

Wird es überhaupt weichen, ohne durch Böllerschüsse vertrieben worden zu sein? Und wird nicht auch das Neue nur zögerlich kommen, ohne freudig begrüßt und durch funkelnde Feuerwerke hofiert und willkommen geheißen? Ohne diese ritualisierten Aufmerksamkeiten, die man einem nahenden Gönner und Mäzen entgegenbringt?

Wollen wir doch für die Dienste, die wir 2021 leisten, auch ordentlich honoriert werden, in der stillen Hoffnung, über die Gebühr hinaus kleine Gnadengaben zugesteckt zu bekommen?

Das, was auf uns zukommt, wollen wir gut stimmen mit Fontänen aus funkelndem Licht. Wir wollen Feuergarben darbringen und zu erkennen geben, wir sind vorweg einverstanden mit dem neuen Regime. Unsere Freude ist auch Beschwörung. Und unsere Trauer über das scheidende Jahr ist halbherzig. Vieles hat uns darin gar nicht gefallen. Aber wir wünschen dem abgehenden Jahr den nicht den totalen Garaus.
Denn wer in aller Welt könnte und sollte uns sonst in das Buch des Lebens eintragen, das im Himmel insbesondere zwischen den Jahren ausgelegt ist?

Wir haben uns verjüngt zum Ende der Welt hin, sind aber um ein Weltjahr älter geworden.

„Aufgeräumt das alte Jahr“, bemerkt Goethe lakonisch in Weimar am 31. Dezember 1777. Aufgeräumt das alte Jahr.“[1]

Von Silvester, dem christlichen Heiligen, wird erzählt, dass er ein totes Rind ins Leben zurückbringen konnte. Ein Wunder aus der Erneuerungskraft Gottes.
Die Ausleger deuten das tote Rind auf das alte Jahr, und dessen Wiederbelebung als junges Kalb auf das Neujahr, in das wir etwa zum zweitausendeinundzwanzigsten Mal seit Beginn der christlichen Zeitrechnung eintreten.

 

Das Überspringen oder Unterschlagen der Kluft zwischen Altjahr und Neujahr strengt an, ist vielleicht sogar unsinnig. Besser wäre ein Neglekt.

Am frühen Morgen des eben angebrochenen Jahres 1986 notiert in New York Andy Warhol: „Kam gegen 4.00 nach Hause und ging mit den Hunden gemeinsam spazieren. Es war blöd, so lange aufzubleiben, nur weil Silvester war.“[2]

Noch ein Gedanke, der sich an die Bemerkung Warhols anschließt: im Grunde genommen ereignet sich in der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar gar nichts Besonderes. Denn im Prinzip stoßen Alt und Neu ständig und fortwährend aufeinander. Das geschieht in jedem gegenwärtig werdenden Zeitpunkt. Gewesenes, das eigentlich gar nicht mehr ist, und aus dem Werden Kommendes, also eigentlich Ungewordenes, treten im Jetzt zusammen, prallen auf einander, prallen auseinander, bleiben gesondert, wie Essig und Öl in der Salatsauce, die schon gut umgerührt werden muss, damit die schmackhafte Mischung bestehen bleibt.

Das Zugleich von Alt und Neu enthält immer diesen Spalt, diese leere Fuge, über der wir im Jetzt Stand fassen und einen Moment einnehmen, einen absolut grund- und bodenlosen, über dem Nichts schwebenden Standpunkt beziehen. Widersinnigerweise behalten wir diesen ausdehnungslosen, diesen zwistigen, ort- und zeitlosen Punkt ein Leben lang bei. Wir gründen sogar unsere Identität in diesem Abgrund, begründen uns daraus, unser jeweiliges Dasein und Gewärtigsein.  Im Grunde ein wesenloses Anwesen, ein Unding, eine dritte Sache zwischen Neu und Alt, die es beide allerdings sonst nicht geben könnte.

[1] Das Buch der Tagebücher, ed.Rainer Wieland, 31. Dezember, 608

[2] Das Buch der Tagebücher, ed.Rainer Wieland, 31. Dezember, 609

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