Leidenschaft

„Das ‚Böse‘ ist zunächst nur als Element zu fassen, menschlich gesprochen: als Leidenschaft. Die Leidenschaft ist nur dann böse, wenn sie in der Richtungslosigkeit verharrt, sich der Richtung verwehrt, die Richtung auf Gott zu – es gibt keine andere – nicht annehmen will. (…) Der Satz der Schrift, der Gott am Ende des letzten Schöpfungstages seinem Werk anmerken läßt, daß es ‚sehr gut‘ ist, wird von der Tradition auf den sogenannten bösen Trieb bezogen. Unter allem Erschaffnen ist die Leidenschaft das ‚sehr Gute‘, ohne das man Gott nicht dienen, nicht wahrhaft leben kann.“[1]

Die Erscheinungsweisen des Bösen haben sich im 20. Jahrhundert, mit dem Aufgang inhumaner Technik und einem alles durchdringenden lebensfeindlichen Kapitalismus dramatisch verändert und drastisch verschoben. Es ist keineswegs mehr Leidenschaft, in der sich der Wille zur Vernichtung und Zerstörung vielfältiger Lebensformen und lebendiger Art artikuliert, sondern viel mehr eine mechanische Kälte, ein in Sachzwängen eingebauter Automatismus, eine ebenso krasse wie unfühlbar gewordene Leidenschaftslosigkeit, die auf Dezimierung und Tilgung aller Kreatur angelegt scheint. Sie bewirkt, dass wir auch in schweren Fällen eher gleichgültig und resignativ reagieren, als mit Empörung.

Unter diesem Gesichtspunkt ist Leidenschaft heute erst recht ein sehr gutes Gut, das einzige vielleicht, das sich im Einzelfall und gemeinsam einsetzen lässt gegen die um sich greifenden annihilatorischen Tendenzen.


[1] Martin Buber, Der Glaube des Judentums, in: Jüdischer Glaube, Hg. Kurt Wilhelm, 507

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