Gletscher

„Mit dem Abfall von Bergen habe
ich Menschen zusammengebaut,
und nun wird eine Zeitlang Duft
stehn über den Gletschern.“
René Char,
Dichtungen (Hypnos Nr. 130)

Es wird Frühling. Die Gletscher werden abgeräumt, zusammengerollt, eingepackt für die nächste Saison. Der Sommer schadet ihnen. Sie verlieren an Fläche und Volumen. Auch das Schmelzwasser schafft kaum zu bewältigende Probleme. Man hat Bunker gebaut, wo sie gut untergebracht sind. Dort lagern sie, bis die Sommerhitze vorbei und der Herbst ins Land gegangen ist. Beim ersten Bodenfrost räumt man sie wieder an ihre alten Plätze.
Hat man sie vermisst?
Früher vielleicht, als es noch Gletscherwanderer gab.
In der kalten Jahreszeit aber würden sie den Surfern fehlen, den Eiskunstläufern, den Spaltenkletterern, die mit Eispickel und Haken in die Tiefe steigen.
Andere, etwa die Gletscherflöhe und der Gletscherolm, werden einfach mit eingepackt.
Sie sind es beinah schon gewohnt, möchte man sagen.
Allein dem Bergadler scheinen die Gletscher im Sommer zu fehlen.
Er würde sie gerne im Frühsommer seinen Jungen zeigen, wenn die im Horst in der Klippenwand flügge geworden sind. Ihm fehlt der grelle Glanz, der an strahlend blauen Tagen aus den Firnen widerscheint. So muss er in den Sommermonaten über kahlen schwarzen Felsschluchten und ausgewaschenen Bergkuppen seine Kreise ziehen, und die Jungen hinter dem Adlerpaar her.
Ihn könnten die Murmeltiere freuen, die im Sommer im geräumten Gletscherfeld einziehen. Sie haben dicke und wohlschmeckende Schwanzstummel. Aber das ist kein Ausgleich für den Verlust an geistiger Lust, für die Einbuße am eisigen, das reine Licht der jenseitigen Sonne widerspiegelnden Gletscherglanz.

Als schwarze, bloß rot bemalte Skelette streben die Liftmasten und Drahtseilbahnstränge zu ihren Zielpunkten, nehmen Richtung auf jene schwarzen Blößen im Hochgebirge. Sie haben es nicht eilig. Sie halten Sommerschlaf und werden erst beim ersten Schneefall rege. Jetzt, in den ersten Frühlingswinden, scheppert das Wellblech auf den Leitfunkstellen der Zwischenstationen. Krokusse schießen empor wie lauter Sektkelche, in die man Bonbonwasser abgefüllt hat. Huflattich freut sich und streut in warmem Gelb die Hänge aus, die früher das blaue Eis der Gletscher einnahm.

Aus dem Tal sind inzwischen die ersten Biber zugewandert.
Sie haben von den Murmeltieren gehört und sind bereit, von ihnen zu lernen, wie man auf steilen Schutthalden, die hier oben Kar heißen, bergab rutscht.
Die Murmeltiere, die alteingesessenen sind nicht gerade begeistert von den Neuankömmlingen.
Aber niemand will Streit. Man arrangiert sich. Man lernt voneinander, Glimmerschiefer zur Stärkung der Muskulatur zu kauen, statt Magnesium. Die Biber unterrichten die Einheimischen in der Kunst, Dämme zu bauen, die halten, auch wenn kein Wasser herabbricht. Auf ihre Art sind beide,sind Bieber und Murmeltiere hochtechnisch versiert. Da lohnt sich Austausch von Wissen und Lebenserfahrung.

Es wäre noch von den Binsen zu sprechen, die aus der schwarzen Feuchtigkeit aufsprießen, die im Sommer von den Gletschern zurückbleibt. Oder von den glazialen Fledermäusen, die Jahrtausende in den Nischen des Gletschers zugebracht haben und nun zum Teil heimatlos durchs Gebirge flattern, teils in den Bunkern eingerollt schlafen.

Ihnen allen, den im Sommer eingerollten und tiefgekühlten Geschöpfen, eingewickelt wie Hausmilben in einem Berberteppich, gilt unsere Sympathie. Aber auch den Steinadlern, den Bergdohlen und Felsmöwen, die jetzt lungernd über den leeren Bergrinnen schweben, über den zurückgelassenen Höhlen und Inseln aus Schatten, in einer melancholischen Trance, in die sie das Erinnern ihrer tiefen Gedächtnisse zieht.

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