verstehen und vergessen

Vier Wagen fahren zwischen zwei Bergen aus Kupfer hervor. Die Wagen werden gezogen von vier Gespannen. En rotes, ein schwarzes, ein weißes, eines mit gescheckten Pferden. Der Wagen mit den schwarzen Pferden zieht nach Norden, der mit den weißen hinterher. Ein Wagen, wo den Pferden danach ist, durch die Erde zu ziehen. Da ertönt der Befehl: „zieht durch die Erde!“
Was ist das? Dichtung, Prophezeiung, Malerei, Beschwörung, Teil eines Traums?
Von all diesen Dingen ist durch Secharja die Rede, einer der biblischen Propheten, Secharja 6, 1-6.
Es wird keine Erklärung abgegeben, was dies Ausgesprochene und Niedergeschriebene zu bedeuten habe, worauf es sich bezieht. Es könnte sich, wie jede Bildrede, auf mancherlei, auf vielerlei beziehen. Die Mehrsinnigkeit der verwendeten Worte und Bildworte ermöglicht Vielbezüglichkeit. Der bestimmte und bestimmende Einsatz von Zahlworten – vier und zwei – legt eine gewisse Bestimmtheit nahe. So verliert sich die Beschreibung nicht ins Ungefähre, sondern nimmt den Anschein einer exakten Dokumentation, einer genauen Schilderung an. Es ist nichts Wolkiges zwischen den Wagen und Pferden. Die Richtungen, in welche die Bewegung geht, entsprechen den Himmelsrichtungen. Wagen, Pferde, Himmel, Erde – davon ist die Rede, zugleich von einem Ereignis, das in dem Raum geschieht, der durch diese Daten abgesteckt ist. Ein Ereignis, von dem der Leser, zweieinhalb tausend Jahre nach der Niederschrift, zu ahnen beginnt, dass es sich um nichts Einmaliges handeln kann, von dem da berichtet wird. Es geht um ein Geschehen, das sich in irgendeiner Weise und in ganz unterschiedlichen Dimensionen und Medien wiederholt. Es realisiert sich historisch, in irgendwelchen Geschichten, von denen wir nur bruchstückhaft oder nie erfahren. Das Geschilderte hat sich verkörpert, um wieder zu verschwinden, verkörpert sich erneut, gleichsam aus nichts hervorgehend und zurückkehrend in ein Vergessen, das man mit diesem Nichts beinahe gleichsetzen könnte.
Bis zu einem gewissen Grade erklärt sich menschliches Unverständnis, erklärt sich unsere Verständnislosigkeit angesichts solcher Schilderungen aus Vergessensprozessen, an denen wir beteiligt waren und sind, die wir vielleicht selbst durchlaufen (haben). Aber das haben wir vergessen, wir haben uns Vergessen vergessen. Dafür gibt es kein Gedächtnis. Vergessen ist erinnerungslos.

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