Im Unterschied zum Portrait, wo sich das darzustellende Gesicht unmerklich bewegt, verzieht und verändert (wie Giacometti einmal leidenschaftlich beklagt hat) hält die dem Stillleben gegebene Vorgabe weitgehend still. Rundherum mag alles in Bewegung und Unruhe sein, doch die Dinge, die das Motiv abgeben, bleiben reglos und geben dem Maler alle Zeit der Welt, um sich in sie zu versenken, sie zu erfassen und wiederzugeben. Vom Welken und Verblühen dieser Dinge einmal abgesehen.
Max Liebermann (1922) hat einmal bemerkt: „Die spezifisch malerische Phantasie des Künstlers kann sich in einem Stilleben gerade deshalb stärker zeigen als in der Darstellung des Menschen, weil das Bund Spargel nur durch die künstlerische Auffassung interessiert, an dem Menschen, am Kopf oder an einem schönen Frauenkörper interessiert uns – namentlich an letzterem – auch noch der dargestellte Gegenstand.“
Cézanne war in gewisser Hinsicht also durchaus konsequent, wenn er von einer Physiognomie, ja einer Seele der Dinge, z.B. einer Zuckerdose sprach, s.o.
Was beim Malen oder Konterfeien eines Spargelbunds herauskommt, ist also ein Porträt auf dem Niveau der alltäglichen und für unbelebt gehaltenen Dinge. Die von einem Stillleben ausgehende Faszination hat nicht, wie in den anderen Fächern (Landschaft, Historien usw.), mit dem Gegenstand zu tun, sondern mit der Art der Darstellung, wie er vom Künstler zur Erscheinung gebracht wird. Das ist der entscheidende Punkt: die Gleichgültigkeit des Sujets ermöglicht – um eine Formel zu gebrauchen, die Kant eingeführt hat – ein „interesseloses Wohlgefallen“, eine Haltung und Bereitschaft, sich auf die ästhetischen Qualitäten des zur Betrachtung stehenden Gegenstandes/Artefakts einzulassen und sie zu goutieren.
Damit das geschehen kann, muss Künstler/in die regungslosen und stillstehenden Gegenstände des Stilllebens mit einer Art innerem Leben erfüllen. Diese Art Aufladung verändert den vorgegebenen Gegenstand, zunächst einmal subjektiv, für die malende Person selbst. Die sichtbaren Dinge verwandeln sich, im Verhältnis zu einander, im Verhältnis zu ihr, der ersten Betrachterin.
Sie nehmen individuelle Züge an, bekommen ein Gesicht, eine Physiognomie, eine Seele. Um die Darstellung dieses in die Sachen hineingebrachten und aus ihnen ersichtlich werdenden Wesens geht es. Es ist ihre Verwandlung, eine Metamorphose, die sie erst eigentlich wesentlich macht.
Diese Transformation in etwas Anderes oder Eigentliches, je nachdem, wie man es auffasst, ist eine Grundleistung künstlerischer Tätigkeit. Darin liegt der erschaffende, der schöpferische Aspekt von Kunst.
Oft hört man, vor allem bei Bildern, die stark von einer naturalistischen oder naturgetreuen Darstellung abweichen, die Künstlerin oder der Künstler habe die dargestellt Sache so gesehen. Man schreibt es überwiegend oder ausschließlich dem künstlerischen Blick, dem Künstlerauge zu, mit der stillschweigenden Unterstellung, es sei dieser Blick, der das Sichtbare verändere. Das ist nur die halbe Wahrheit, von der auch die Maler selbst sich immer wieder haben überzeugen lassen. Bei der Verwandlung der alltäglichen Gegebenheiten in Erscheinungen mit eigener Physiognomie und einem ausgeprägten Charakter und einer Art Eigenleben und Eigensinn spielt das Auge mit, ist aber keineswegs der Urheber dieser Transformation. Sie geht vom Gefühl, von der Einfühlung aus und insbesondere – um das bei dieser Gelegenheit wieder einmal zu betonen – von der gestaltenden Hand. Sie führt aus, was das Auge nicht sieht und gar nicht sehen kann. Sie tritt in eine Art Resonanzbeziehung zu dem, was da vorliegt und vorgegeben ist. Sie stellt dann vor Augen, was meist auch für Auge und Blick überraschend und unerwartet zu sein pflegt. Ja, die Hand überrascht auch das Auge, das oft auf ganz anderes gefasst und ganz anders eingestellt ist.
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