„Wörter“

Man meint, Worte seien an den Dingen oder Phänomenen befestigt, die sie bezeichnen. Dem ist aber nicht so. Sie wandern. Sie sind ständig unterwegs und suchen Personen, die sie ansprechen, Menschen, durch die sie hindurchgehen können. Das brauchen sie. So laden sie sich erneut auf und können weiterwandern. Sie suchen Münder, die sie aussprechen. Aber mindestens ebenso lieb sind ihnen Gedanken, in denen sie vorkommen. Sie tauchen in den Bewusstseinsströmen ein, die uns Menschen durchfließen und lieben es, daraus wieder aufzutauchen und sich zu zeigen.
Sie halten es für eine Wertschätzung, wenn man sie fasst und niederschreibt.
Nicht alle Wörter mögen das.
Aber die unter ihnen, die das lieben, umgeben einen in hellen und dunklen Schwärmen. Die anderen halten sich fern. Sie haben eine Abneigung, die sich vielleicht auf den Vorgang des Aufschreibens bezieht. Sie ziehen es vor, in der Umgangssprache zu bleiben, parole, wie der Sprachwissenschaftler Saussure das gesprochene Wort genannt hat. Doch finden sich immer wieder auch Worte, die zu Tausenden, ja Zehntausenden (Myriaden) jene Personen umschwärmen, in denen es eine Neigung gibt zur Dichtung oder Schriftstellerei. Sie versuchen sie zu bestechen und Eingang, die winzigen Öffnungen zu finden, in denen es zu den Sätzen und Texten geht, die von diesen Menschen verfasst werden.
„Warum ich schreibe? Weil Wörter mir diktieren: schreib uns.“* Das sagen sie nicht aus Eitelkeit oder im zarten Gefühl, der Schreiber hätte ohne sie nichts zu sagen. Sie sagen es mit großer Entschiedenheit. Denn: „Sie wollen verbunden sein, Verbündete. Wort mit Wort mit Wort. Eine Wortphalanx für, die andere gegen mich. Ins Papierfeld einrücken wollen sie, da soll der Kampf ausgefochten werden.“
In unserer Epoche der Bildschirme haben sich die Worte akkommodiert. Es reicht ihnen, wenn sie auf dem Monitor erscheinen und zum Schluss abgespeichert werden. Dieses virtuelle Dasein geht ihrer intendierten und solider ausgestatteten Existenz als – z.B. als Pdf im Internet – voraus.
Riesige Wortspeicher gibt es da, Paläste und riesige Hallen erwarten sie dort. Und ein Wandern und Abrufen, das über alle Begriffe und Horizonte geht.
„Ich verhalte mich skeptisch“ fährt Rose Ausländer fort, „will mich ihrer Diktatur nicht unterwerfen, werfe sie in den Wind.“ Doch von dort kommen sie wieder, sie lassen nicht ab. „Sind sie stärker als er, kommen sie zu mir zurück, rütteln und quälen mich.“ Aus den winzigen Wörtern, kaum größer als Moskitos, sind kräftige Wesen geworden – sonderbare Verwandlung: „Sie quälen mich, bis ich nachgebe. So, jetzt lasst mich in Frieden.“ **

*) Rose Ausländer, zitiert aus „Jüdischer Kalender“, 30.Jg.

**) im Gedenken an Marcel Reich-Ranicki, verstorben heute, am 18. September 2013, im Alter von 93 Jahren

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