Wasser

Zu den wunderbarsten Erscheinungen in dieser Welt gehört das Wasser. Und nichts ist dem Bewusstsein, in dem wir gehen und stehen, schwimmen und zerfließen, genauso verwandt. Oder auch nur ähnlich.
Vielleicht hat das damit zu tun, dass wir selbst zum größten Teil aus Wasser bestehen. Und über diesem Wasser schwebt, wie der Geist Gottes am Anfang, die Seele. Sie schaut ins Wasser hinab, das den Körper bildet, das immerzu nachfließt, zufließt, abfließt. Im menschlichen Innern breitet es sich aus wie ein See und darüber schwebt die Seele und schwingt ihre Flügel wie ein Schüttelfalke. Unter ihr, auf der Wasseroberfläche, zeigt sich, bei stiller Witterung, ihr Spiegelbild. Dann fährt ein Hauch übers Wasser und es zersplittert in einen Schwarm blinkender Funken.

„Wenn man unseren Leib zerlegt, so findet man nur Wasser und einige Dutzend Stoffhäufchen, die darauf herumschwimmen. Das Wasser steigt in uns genau so wie in die Bäume, und es bildet die Tierleiber, wie es die Wolken bildet.“ *

Im Wasser liegen ungeheure Gestaltungskräfte. Sie zeigen sich in den Landschaftsprofilen: Tafelberge, tief eingeschnittene Schluchten, durch Gletscher geebnetes Flachland, ausgewaschene Felsformationen, in denen die kühnsten Skulpturen, die ein Bildhauer ersinnen kann, spielerisch vorweggenommen scheinen. Man findet Felswände wie Fassaden von Palästen und im Gebirge architektonische Vorskizzen, die sich bis in die Haufenwolken mit ihren Wolkenschlössern fortsetzen.

Dabei genügt schon ein flüchtiger Blick in die Bildung und Gestalt eines Tropfens, der sich wie aus nichts zusammenzieht, um in Staunen zu geraten über dieses wunderbare Zusammengehen sammelnder und zerstäubender Kräfte, aus denen der kristallklare Vorentwurf für die überaus fruchtbare Ovalgestalt ersichtlich wird, durch die sich alles animalische und menschliche Leben fortpflanzt.

Vom kristallisierenden Wasser wäre zu reden, von der unvorstellbaren Mannigfaltigkeit und Individualität der Schneekristalle, vom Reif, der sich morgens an den Grashalmen festsetzt, von der Leuchtwirkung der Tautropfen und von der Farbigkeit, die sich im herabsprühenden Regen ergibt, in den die Sonne hineinscheint.

Erde, Licht und Luft, alles löst sich im Wasser auf und verdichtet sich daraus erneut, steigt auf und fällt herab in einem Zyklus, der so in der Schwebe bleibt, dass Ende und Anfang immer anders und überall zugleich ineinander übergehen.

*) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 66 (I, 17)

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