Reiseträume

Man träumt davon, unterwegs zu sein. In den meisten Träumen ist man unterwegs oder fühlt sich jedenfalls so. Träume, in denen man wie zu Hause ist, gibt es nicht. Sie würden auch ihren Auftrag verfehlen, Mitteilung zu machen vom Unbekannten, das in einem steckt. Das ist ihre Sendung. Dorthin schicken sie einen. Dorthin ist man permanent unterwegs, auch tagsüber, ohne es zu realisieren. Eine Art Somnambulismus, die Kehrseite gewöhnlicher Tagträumerei.
Als Reisende sind wir allnächtlich in Bewegung. Von Ort zu Ort, dem Bewusstsein weit entlegen, dem Bewusstsein schon wie vor unerhörter Zeit entnommen. Dort findet man sich ein, bleibt stecken in einer Stelle, einem Fahrzeug vergleichbar. In den Träumen tritt eine Wirklichkeit ein, die uns im gewöhnlichen Erdenleben verborgen bleibt: dass wir eigentlich ein Raumschiff bewohnen. Diese Erde ist eines, das mit unvorstellbarer Sekundengeschwindigkeit durchs All fliegt.

Im „Mann ohne Eigenschaften“ ist die Rede von Reiseträumen, „in denen sich das Gefühl der rastlosen Bewegung spiegelt, die uns mit sich führt“. *
Darunter rechnet gewiss auch die konstante Beschleunigung, mit der unsere Welt durchs Universum saust, soundsoviel Kilometer pro Augenblick. Das ist vielleicht die Basisgeschwindigkeit all der Geschwindigkeiten, die in uns – nicht nur in unseren Träumen – wiederkehren. Das Tempo der Blutzirkulation, der Gedankengänge, des Lichts der inneren Erleuchtungen, die Geschwindigkeit, mit der sich der Schall der inneren Stimmen fortpflanzt, das alles baut darauf auf. All diese Tempi führen uns mit sich, bilden in jedem Lebewesen eine erstaunliche Einheit. Ja, erstaunlich – denn sollte man nicht erwarten und befürchten müssen, dass alles auseinanderfliegt in die unterschiedlichen Geschwindigkeits-Richtungen? Nein: jede und jeder von uns hält das nicht nur aus, sondern stellt ein Wunderwesen, die leibgewordene Kraft des Zusammenhalts dar.

*) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 32

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