„weibliche Schönheit“

„Ulrich fühlte sich sofort an alte Photographien oder an schöne Frauen in verschollenen Jahrgängen deutscher Familienblätter erinnert, und während er sich in das Gesicht dieser Frau hineindachte, bemerkte er darin eine ganze Menge kleiner Züge, die gar nicht wirklich sein konnten und doch dieses Gesicht ausmachten. Es gibt natürlich zu allen Zeiten alle Arten von Antlitzen; aber je eine wird vom Zeitgeschmack emporgehoben und zu Glück und Schönheit gemacht, während alle anderen Gesichter sich dann diesem anzugleichen suchen; und selbst häßlichen gelingt das ungefähr, mit Hilfe von Frisur und Mode, und nur jenen zu seltsamen Erfolgen geborenen Gesichtern gelingt es niemals, in denen sich das königliche und vertriebene Schönheitsideal einer früheren Zeit ohne Zugeständnisse ausspricht. Solche Gesichter wandern wie Leichen früherer Gelüste in der großen Wesenlosigkeit des Liebesbetriebs …“
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 22, 1. Buch, 6. Kapitel

Musil beschreibt in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, was man heute als Standardisierung oder Normierung weiblicher Schönheit erlebt. Der eine oder andere weibliche Typus – zunächst einmal vielleicht gar nicht irgendwelchen überlieferten Schönheitsidealen verpflichtet – wird dazu ausersehen, Maßstab und Galionsfigur einer ganzen Altersgruppe, ja Generation zu werden, wenigstens über ein paar Jahre hin.
Galionsfigur – heute sagt man Ikone.
Diese modischen, ästhetisch-kosmetischen Leitfiguren ziehen ganze Schwärme männlicher Bewunderer und weiblicher Nachahmerinnen hinter sich her. So vermitteln sie auch zwischen beiden Geschlechtern und stiften einen Liebesbetrieb an, der unter der Ägide ihres Ansehens und Aussehens floriert, Umfang und Qualität eines Kultes annehmen kann.

Wie eine entsprechend fabrizierte Schaufensterpuppe mit allerlei Kleidungsstücken und Schmuckteilen behängt werden kann, so gesellt sich zu diesen Prototypen eines vorherrschenden männlichen Geschmacks und eines weiblichen Selbstbildes ein ganzer Hof aus Akzessoires, Gewohnheiten, Redeweisen, musikalischen Neigungen und den unterschiedlichsten, für Außenstehende oft absonderlich erscheinenden Vorlieben.
Auch gewisse, von den schönen Leitbildern oder ihren Propagandisten nur zum Schein, als Markenzeichen inszenierte Macken oder kuriose Launen werden dann vom Anhang begierig übernommen, aufgesogen, zu eigen gemacht.

Mit Facebook ist uns heute die Möglichkeit gegeben, Musils Thesen zu überprüfen.
Man findet dort in der jungen Generation, in der die heranwachsenden Menschen ihrer selbst noch sehr unsicher sind, das von Musil beschriebene Phänomen besonders drastisch ausgeprägt.
Mimesis, also Nachahmung in physiognomischer, gestischer usw. Hinsicht beherrscht dort die Selbstdarstellung und Selbstinszenierung der Mädchen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Die Wiederkehr eines bestimmten, allerdings schwer beschreiblichen Gesichtsausdrucks ist so verblüffend, dass man die vielfach miteinander „befreundeten“ Mädchen ohne weiteres für Schwestern, für Töchter ein und desselben Elternpaares halten könnte. Mit dem einen Unterschied: in der Geschwisterschaft streben ältere und jüngere häufig danach, sich voneinander abzusetzen und entsprechend zu konturieren.
Das Umgekehrte ist auf der Ebene der Facebook’freundschaften‘ der Fall. Sie alle, Mädchen und junge Frauen, eifern einem Typus nach, der den Angehörigen einer älteren Generation, sagen wir der Elterngeneration oder der der Großeltern, verborgen bleiben muss und bleiben soll. Die jungen Damen kommunizieren in einer gestischen, verbalen und physiognomisch sich artikulierenden, weitgehend unverständlichen Geheimsprache, die sich überwiegend oder ausschließlich auf ihnen bekannte – bewusste oder unbewusste – Vorbilder bezieht.
Diese geben den Gruppen, Gemeinden oder Clans der jungen Leute den Knüpfpunkt, das Arkanum. An ihnen kristallisiert sich ein gemeinsames Geheimnis aus. Sie bieten einen potenziellen Ort und Status imaginierter Übereinkunft und verheißener Einweihung. Zu diesen Stätten erhält man als gewöhnlicher Erwachsener keinen Zugang.

Wie in vielen Fällen in freier Natur gehen auch im vorliegenden Phänomen Mimesis und Mimikry Hand in Hand. Mimikry als „Schutztracht wehrloser Tiere, die in Körpergestalt und Färbung wehrhafte oder anders geschützte Tiere ‚nachahmen‘“ (Duden Fremdwörterbuch).
Es erübrigt sich, hinzuzufügen, dass ähnliche, ja übereinstimmende Verhaltens- und Anpassungsmuster auch bei männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden anzutreffen sind.

Dem egalisierenden Zuschnitt, dieser Zurichtung im Äußerlichen und in modischen Äußerlichkeiten entspricht allerdings keine des Inneren. Wie die Schale der Muschel oder das Gehäuse des Einsiedlerkrebses handelt es sich um auswändige Schutzvorkehrungen, eben um ‚Schutztrachten‘.
Sie haben auch die Funktion, in einer Zeit überbordender Werbe- und Identifikationsangebote diese abzuwehren durch Findung und Erfindung eines Gemeinsamen dahinter, in einem provisorisch abgeschirmten Raum.
Einen Konsens zu ertasten, den man mit Gleichaltrigen über die ganze Welt hin teilen kann. Ein Datum, das die Möglichkeit bietet, mit anderen, die in ähnlichen Problemlagen sind, sich zu verbünden zu einer korrespondierenden, einander ergänzenden Gesinnung.

Es könnte also sein, dass die zunächst ins Auge fallende, eklatant wirkende Fassade Homogenität und Konsistenz vortäuschen soll, um in Wirklichkeit Kulisse abzugeben für ein Zusammenfinden aus starker Vereinzelung und Zerstreuung in einer Zeit sich ständig erhöhender zentrifugaler Kräfte.
Um auf Musils Darstellung zurückzukommen: die „vertriebene“ Schönheit kehrt irgendwann aus dem Exil zurück, natürlich umso nachdrücklicher, umso mehr eine Frau die Chance hat, sich zu ihren Besonderheiten zu bekennen, wie unzeitgemäß oder un-artig die – für sich selbst gesehen – auch sein mögen.

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