ein Gedanke gefällt

„Die Muskelleistung eines Bürgers, der ruhig einen Tag lang seines Weges geht, ist bedeutend größer als die eines Athleten, der einmal im Tag ein ungeheures Gewicht stemmt; das ist physiologisch nachgewiesen worden, und also setzen wohl auch die kleinen Alltagsleistungen in ihrer gesellschaftlichen Summe und durch ihre Eignung für diese Summierung viel mehr Energie in die Welt als die heroischen Taten; ja die heroische Leistung erscheint geradezu winzig, wie ein Sandkorn, das mit ungeheurer Illusion auf einen Berg gelegt wird.
Dieser Gedanke gefiel ihm.“

Zum Schluss einer ähnlichen Berechnung, die er wenige Zeilen zuvor angestellt hat, kommt der Held des Romans zu einem vergleichbaren Ergebnis. Alsdann fügt er staunend hinzu, daraus ließe sich ermessen, „welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut.“

Eine verblüffende Feststellung. Sie verblüfft, weil sie als höchste Leistungssteigerung das Nichtstun, besser das Nicht-Tun ausweisen könnte.
Im Roman wird der realen menschlichen Leistung nachgegangen, die darin liegt, sich im Alltag und gegen denselben zu behaupten. Umtriebigkeit, so möchte ich diese Stelle verstehen, erfordert weniger Kraft, oder andersherum: bringt weniger Kraft in die Welt als Stillhalten und Standhalten, sich nicht dahin und dorthin fortreißen lassen. Heroisch sind nicht die Taten, die in der Menschengeschichte als solche deklariert worden sind. Heldenmut bezeigen vielmehr die Stillen im Lande. Sie sind es auch, die Lebensenergie in die Welt einfließen lassen.
Ein Gedanke, der an fernöstliche Weisheitslehren erinnert.
In der Tat: wer sich schon einmal um vollkommene Handlungsfreiheit, also um eine Freisetzung von allem Handeln gemüht hat, um eine Einstellung alles Tuns, um Stillstellung sämtlicher – und gerade der alltäglichen – Verrichtungen, wird eine Ahnung davon haben, von welcher Leistung die Rede ist. Denn die Kraft, einem Tun und Handeln Einhalt zu gebieten, muss mindestens gleich groß, wahrscheinlich noch beträchtlich größer sein als der Energieaufwand zu diesem praktischen Handeln und Tun.
Und dabei ist noch nicht einmal die Rede von der ans Unmögliche grenzenden Leistung, auch den eigenen Gedanken Einhalt zu gebieten, den Strom der Vorstellungen, Bilder und Träume zu stauen, die ohne Unterlass aus- und einströmen. Die Reaktionen auf Umweltreize und auf Körperreize müssen vollständig sistiert werden, wollte man ein vollkommenes NICHTTUN realisieren. Allerdings wird es kein Mensch je zu solch einer Perfektion bringen, es sei denn, er ließe sich bei lebendigem Leibe einfrieren, um die Körper- und Seelenfunktionen herabzudimmen und dem absoluten Nullpunkt anzunähern. Bekanntlich leben in unserer Welt schon eine gewisse Anzahl von Personen, die sich solch einem Schockfrosten unterzogen haben, jetzt in Kühlhäusern liegen und an dem fernen Tag wieder aufgetaut werden wollen, wo man das Elixier erfunden haben wird, das ihnen dann zu einem unsterblichen Leibesleben verhilft.

Es ist also eine durch keinen Menschen aufzubringende Anstrengung, die vom NICHTTUN abhält, das selbst in einem einzigen gewaltigen Kraftakt besteht, um auch nur für den Bruchteil eines Moments eingelöst zu werden. Danach würde es ungeheure Energien beanspruchen, diesen Zustand völliger Unbewegtheit unerschütterlich durchzuhalten. Ein status mentalis, wie ihn die Anhänger der Stoa angestrebt haben dürften.
In Ansehung all dieser keineswegs nur psychischen, sondern auch physikalischen Schwierigkeiten tun wir gut, bereits vom Nichtstun zurückzuschrecken, das doch auf einem erheblich niedrigeren Energieniveau angesiedelt ist.

Robert Musil, Mann ohne Eigenschaften, 12 (1. Buch, 2. Kapitel)

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