Mnemotechnik

Zahlen, Buchstaben, überhaupt Zeichen sind unter anderem auch deswegen erfunden, um in Erinnerung zu behalten, um ins Gedächtnis zu rufen, was nicht mehr oder noch nicht da ist, in der Zeit, im Raum. Sie sind Elemente mnemotechnischer Verfahren, die zur Kulturentwicklung, zur Verbreitung und Weitergabe von Wissen, zur Expansion und Tradition von Können und Kenntnissen maßgeblich beigetragen haben. Dabei ist nicht nur an die unterschiedlichen Formen von Verschriftlichung zu denken, sondern an die klugen Verfahren, die ersonnen worden sind, um Erkenntnisse und Wissen zu teilen und weiterzugeben, ohne die Inhalte zu fixieren.
Beim Singen, einer der frühesten mnemotechnischen Methoden, aber auch im Erzählen, also in oraler Überlieferung, bleiben diese Inhalte flüssig. So haben sie die Möglichkeit, sich fortzuentwickeln und sogar fortzupflanzen, wie wir dies eigentlich nur von pflanzlichen und tierischen Lebewesen kennen. Erdbeeren vermehren sich über Früchte und Ranken, mit denen sie weit ins Ungewisse ausgreifen. Beide ‚Techniken‘ der pflanzlichen Fortpflanzung lassen sich auch in den mündlichen, gesungenen und gedichteten Traditionen der Menschheit beobachten.

Den mnemotechnischen Hintergrund der Kunst hebt Musil in einem Aphorismus hervor:
„Erinnerbarkeit ein alter Zweck der Kunst. Heute veraltet, läßt noch manche Zusammenhänge begreifen.“ *

Es muss daran erinnert werden, dass Erinnern sich nicht unbedingt und ausschließlich auf zurückliegende Zeit bezieht. Es bedeutet eine Wendung nach Innen, ein Moment der Vergegenwärtigung von sowohl Vergangenem wie auch Zukünftigem.
Dasselbe gilt auch für ‚Gedächtnis‘. Gedenken umfasst als Innewerden unterschiedliche Zeitmodi, Gewordenes ebenso wie Werdendes und noch Ungewordenes. In diesem zeitübergreifenden Sinn ist Kunst schon immer Anstoß nach Innen gewesen, ins Innere als Grab und Schoß, in dem Gewesenes und Künftiges ungeschieden beieinander liegen. Kunst gibt Weggeleit zu diesem Ort fruchtbringender Verwesung.

*) Robert Musil, Prosa, Dramen, Späte Briefe, 717

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert