Kunst als Ansteckung

„Kunst teilt sich nicht dem Verstand (allein) mit, sondern durch Ansteckung.“ *
Eine Form der ‚Übertragung‘ von Kunst, bisher noch viel zu wenig beachtet: Ansteckung, Infektion.
Erfolgt durch Berühren, unter der Beteiligung von Keimen, die dabei übertragen werden. Das Kunstwerk als Zwischenwirt. Die Erreger sind auch in der Luft. In guter Luft zahlreicher als in so genannter schlechter (oder miasmatischer) Atmosphäre. Es gibt Personen, die meinen, Kunst, die in der Luft liegt, herausspüren zu können: Sammler, Spekulanten, nicht zuletzt die Künstler selbst.

Der Verstand versucht manchmal, sich da rauszuhalten. Mit Kunstgeschehen und dem daran hängenden Betrieb möchte er nichts zu tun haben. Dann erfolgt die Übertragung auf direktem Wege. Es geht ins Blut und nistet sich in den Hirnwindungen ein. Manchmal setzen sich die praktischen Verstandeskräfte noch zur Wehr. Zu spät. Das Kunstpathos, eine Art Fieber, hat entscheidende und einflussreiche Partien von Leib und Seele erfasst. Schwellungen als gelegentliche Symptome, Verflüssigungen, Erwärmungen, bis hin zu Feuer und Flamme. Starke Vibrationen, Zittergefühle, manchmal auch von Schwindel und Entrückungszuständen begleitet. Veränderungen des Pulsschlags, des Körpergefühls.

Die Ansteckung klingt sehr allmählich und fast nicht wahrnehmbar ab. Im Unterschied zu den meisten anderen Infektionen gibt es hier keine Immunität. Eher hat es den Anschein, dass die Erreger, einmal in den Seelenleib geraten, sich dort lebenslänglich einrichten und so die Wiederkehr neuer dramatischer Zustände begünstigen.

In den vorangegangenen Zeiten hat man Kunst unter anderen Aspekten gesehen. Der Aspekt der Ansteckung, den sie mit etlichen Krankheiten teilt, ohne aber ohne diese gerechnet werden zu können, ist frappierend. Er beunruhigt und bringt ältere, zum Teil unterschwellige, kaum reflektierte Vorstellungen ins Wanken, andere aber erst recht zur Erscheinung.
Sollte Kunst also nicht erblich sein, verankert im genetischen Material wie bei der Familie Bach?
Ferner auch nichts, was vom Himmel fällt wie das Manna oder erarbeitet werden kann (und muss)? – wie das Brot, aus Rohstoffen, wie dem Getreide, einer oft langwierigen Behandlung und Bearbeitung unterzogen, um dann als Nahrung in den Körper aufgenommen zu werden?

Der Gesichtspunkt der Ansteckung würde ausschließen, dass es sich um eine Veranlagung handelt. Veranlagung könnte eine Anfälligkeit, eine Bereitschaft für Kunst liefern, aber nicht aus sich selbst, ex automate, Kunst hervorbringen.

Eine persönliche Irritation ergibt sich für all diejenigen (unter die auch ich rechne), die Kunst, wenn überhaupt, lieber mit den Allergien auf eine Stufe gestellt hätten. Hier war man davon ausgegangen, dass es sich bei den oft sich zeigenden künstlerischen Sensibilitäten, die sich ja rezeptiv und produktiv auswirken können, um gleichsam allergische Reaktionsbildungen handelt.
Das haben viele lange geglaubt und sind nun, durch Musils Einwurf, zum Überdenken ihrer Diagnosen gezwungen.
Wir sehen uns genötigt, neben der allergischen Kunsteinschätzung eine Theorie der Übertragung von Kunst durch Ansteckung gelten zu lassen und hoffen auf eine wissenschaftliche Vereinbarkeit dieser unterschiedlichen Anschauungen.
Wünschenswert scheint uns eine Theorie der Kunst als Pathos, als Leidenschaft, also eine Kunstpathologie, die alle bereits existierenden Ansätze integriert. Als schmerzliche Alternative: zeigen, dass im Begriff Kunst so vielfältige Zustände, Prozesse und Symptomatiken zusammengefasst sind, die nur voneinander gesondert betrachtet werden können und einer völlig neuen Einteilung und Zuordnung bedürfen. Das würde im Extremfall den Sammelbegriff ‚Kunst‘ obsolet machen.
Doch festgehalten werden muss, dass es in der ‚Kunst‘, um diesen Begriff ein vielleicht allerletztes Mal zu gebrauchen, um eine innige und unauflösliche Einheit von Tun und Erleiden geht, ein harmonischer Antagonismus, der im Kranksein, in der Patientenexistenz, so nicht gegeben ist.

*) Robert Musil, Prosa, Dramen, Späte Briefe, 716

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