es hat eine Stimme

Das Rätsel, das die Sphinx seinerzeit dem kundigen Ödipus stellte, ist in mehreren Varianten überliefert. Eine davon fragt nach dem Wesen, das mal auf Vieren, mal auf Zweien, mal auf Dreien daherkommt und über eine Stimme verfügt, griechisch phoné.
Oder heißt es betont eine Stimme, mía phoné?
Egal. Es ist der Stimmbesitz, der das erfragte Wesen charakterisiert. Eine Stimme, die alle Stimmlagen und Schattierungen annehmen kann. Eine nachahmungsfähige Stimme, ein kennzeichnendes Organ und Instrument dieses Geschöpfes.
Im Prozess der Wortbildung, im Zuge der Sprachschöpfung sind diesem Organ die schrillsten und die leuchtendsten Farben verloren gegangen. Beim Einfließen ins artikulierte und prononcierte Sprechen findet eine Zähmung statt. Eine Domestikation, die diese Stimme den Stimmen der Natur enthebt, entrückt. Von ihrer Zauberkraft büßt sie dabei ein. Sie gewinnt ihn im Lied, im carmen zurück, einen Abglanz dieses ursprünglich sirenisch wilden, nun gemilderten, aber keineswegs verblichenen Charmes.
Es bleiben ihr auch noch im Sprechen, gewisse lautmalerische Koloraturen, die an ein Meckern, Zwitschern und Krächzen, ans Zischen der Schlange oder das Rauschen eines Windes erinnern. All diese nun fürs Ohr von außen kommenden, seltsam wild, befremdend, bezaubernd klingenden Naturlaute werden da und dort im Gesang zurückgeholt. Im Trommeln und Saitenzupfen tönen sie wider.
Die Stimme tritt auf, um sie zu begleiten oder in sie einzutreten. Sie ist ein schmiegsames Organ, kann sich aufblähen wie ein quäkender Ochsenfrosch, aber auch klein und unsichtbar machen wie eine zirpende Grille.
Sprachgewinn bedeutet Einbuße an Kraft und Ungestüm, an Naturkraft. Der Gang des Orpheus in die Unterwelt ist Bild, Allegorie für ein Hinabsteigen in die Tiefe, um von dort zurückzuholen, was verloren gegangen ist.

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