Vom Einäugigen

„Leb wohl, Einäugiger“, sagte er.
Er sagte es im Märchen.
Dort haben die Einäugigen keinen Eigennamen.
Alle, die ein Auge haben, heißen so.
Dadurch sind sie leicht von den Vieläugigen zu unterscheiden, die es auch gibt.

Man trifft mitunter auch Zweiäugige an. Sie lassen sich nicht unbedingt Menschen nennen, obgleich in verwandtschaftliche Beziehungen zu allen zweibeinigen, zweiohrigen, zweiäugigen und mitunter menschenähnlichen Wesen. Verwandtschaften, die sie über Generationen und Zeiträume pflegen. „So weit zwei Augen sehen können“, lautet die Faustregel.

Unter den Zweiäugern sind Spatzen, Elstern und Eulen zu finden, die letztgenannten mit einem Paar spitzer und auffällig hochgestellter Ohren. Außerdem treten noch zwei Beine hinzu.
Zweiäuger und Zweibeiner gibt es zugleich.
Echsen, die gelernt haben aufrecht auf ihren Hinterbeinen zu gehen, gehören ebenfalls dazu.
Man reiht sie unter die Zweibeiner ein, obgleich ihnen vier oder auch sechs Beine zur Verfügung stehen. Aber sie gebrauchen sie kaum, sind nicht angewiesen darauf. Das entscheidet, dieses kleine Freiheitsmoment.

Das innere oder Stirnauge, das bei Schlangen und seltenen Menschen auftritt, rechnen sie nicht.
Es macht nicht dreiäugig oder mehräugig. Sie sagen, es schaut, wohin kein anderes Auge folgen kann. Ist es überhaupt eines? Sie zählen es nicht.
Mit ähnlicher Begründung nehmen sie dem Grottenolm seine beiden Augen nicht ab.
Was sieht ein Grottenolm? fragen sie und nehmen Anstoß, dass kein Olm anschaut, wenn man ihn fragt. Die hellsichtige Blindheit dieser Grottenbewohner, von der gemunkelt wird, lassen sie nicht gelten. Die ist ihnen zu ungewiss.

Der Einäugige, nachdem er sich verabschiedet hatte, kehrte nach Hause zurück.
Seine Höhlenwohnung ohne künstliche Beleuchtung. Der schwache Schimmer, ein phosphoreszierendes Glänzen, das vom einen Auge ausgeht, reicht aus.
Tief in den Berg reichende Behausung. Schon ihr Urahn, der Kyklop, hat so zu hausen geliebt.
Das ist der, dem Odysseus grausamerweise das eine und einzige Auge ausstach.
Noch heute weinen sie wegen dieser Ungerechtigkeit, die einem von ihnen einst widerfahren ist.

Der Einäugige, bei sich angekommen, begann er sein allabendliches Weinen.
Sie wissen, ihr Weinen kann das verlorene Auge ihres Vorfahrens niemals ersetzen.
Es ersetzt bloß die Tränen, die er hätte weinen können, wäre ihm sein eines Auge geblieben.

Es sind große Bäche, die aus dem Auge eines Einauges fließen.
Eine Gabe der Natur.
Sie hat ihnen diese ergiebigen Quellen zum Ausgleich dafür gestiftet, dass ihnen nicht neun oder neunundneunzig Augen zum Weinen zur Verfügung stehen, sondern eben mal dies einzige eine.

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