Saiten und Holz

In „Saiten und Holz“ geht Lévinas der Frage nach, warum es sich bei der Bibel bis heute um ein besonderes Buch handelt, dem auch eine wissenschaftlich gehandhabte Zerlegung und quellenkritische Analyse nichts anhaben konnten. Er sieht das Buch gewahrt und gleichsam regeneriert in und durch spezifisch „jüdische Leseweise“ . Die besondere Form der Rezeption fließt in den Urtext zurück, lädt ihn unentwegt auf. Daher die Frische und Aktualität dieses Buches. Es lebt aus der Auseinandersetzung, die es wiederum inspiriert und anfeuert. Es ist ein atmendes, ja mehr noch: ein beatmendes Buch. Es ist inspirierend, weil es in ständigen Austausch mit Geist, mit Geistern und Sinnen steht. In der Auseinandersetzung mit diesem Buch samt seinen minimalsten Zeichen und Details geht und weht es hin und her, bläst ins schwarze Feuer auf den weißen Seiten und ins weiße Feuer in den Köpfen und Herzen der Leser und Hörer, haucht ein, bläst und bestürmt sie.

Aus diesem Impetus gewinnt das Buch seine wunderbaren Lebens- und Überlebenskräfte und teilt sie mit, teilt sie mit dem Volk, den Juden, und den unabsehbaren Heerscharen leidenschaftlicher Leser, Sucher, Forscher, Fragesteller, die als solche Gläubige und Zweifler zugleich sind.

Das Geschriebensein dieser „Heiligen Schrift“ untermauert seine unvergleichliche Würde. Doch seine immer wieder erfahrbare Unmittelbarkeit und Lebendigkeit bezieht dieser Text daraus, dass er gesprochenes und sprechendes Wort bleibt. Dass er aus der offenkundigen Bestimmtheit, den eine mehrtausendjährige Inschrift kennzeichnet, spontan und unversehens in einen gleichsam flüssigen Aggregatzustand zurückkehrt, den keine sichtbare Schrift und vielleicht auch keine hörbare Stimme erreichen und darreichen kann: flüssig, fließend, durchdringend und durchströmend erlangt der Text eine Qualität, die der des sagenhaften Alkahest* gleichen mag, einer Lösung zwischen Stoff und Geist, zwischen Stoff und Antimaterie, angereichert mit all den Potenzen, die etwa zwischen ETWAS und NICHTS liegen könnten.

*) „Alkahest, von den Alchemisten häufig genannte Substanz, meist als identisch mit dem aus dem Stein der Weisen bereiteten Elixir betrachtet, manchmal aber auch allgemein als ‚menstruum universale‘, als allgemeines Lösungsmittel, das alle festen Stoffe aufzulösen imstande sein sollte. Nur das Wasser sollte von der Lösekraft des A. unbeeinflusst bleiben.“ Biedermann, Handlexikon der magischen Künste, s.v. Alkahest

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