In einem Artikel zu Franz Rosenzweigs Bedeutung für „ein modernes jüdisches Denken“ versucht Emmanuel Lévinas die Geltung und Tragweite der Glaubensgemeinschaften noch einmal zu fassen. Er meint, sie sollten sich von ihrem Auftrag her, das Unendliche des Menschseins darzustellen, nicht durch gegenseitige Abgrenzung definieren, sondern eben von diesem Auftrag her: „Dasjenige Leben, das die Unbeweglichkeit der Begriffe und Lebensgrenzen in einem präzisen, lebendigen Sinn überwindet, heißt Religion.“ Zu der lebensfeindlichen Gewalt der Begriffe treten noch hinzu die ideologisch erstarrten Denkformen, die Praxen und auch in Wissenschaft gekleideten Theorien der unterschiedlichen Systeme z.B. politischer und ökonomischer Prägungen. Religion hat immer wieder Meinungen zu durchbrechen oder zu übersteigen, die sich im Alltagsleben einrichten, sich vor dem Hintergrund unvermeidlicher Sachzwänge eine Scheinlegitimation einholen und ein Verhalten diktieren, das – einmal eingeschliffen – für „völlig normal“ gehalten wird.
Lévinas erkennt in Religion eine geschichtsübersteigende „Sendung“. In Berufung auf Rosenzweig hält er daran fest, dass „der letzte Sinn des Wirklichen“ – und mit ihm auch das „Heil“ – sich einstellt „oberhalb von Kriegen und Revolutionen – in der eschatologischen Zeit der Religionen, jenem Absoluten, auf das wir uns beziehen müssen. Judentum und Christentum sind zunächst zwei Weisen, die Zeit des Einzelnen, dass Fließen der Augenblicke, m it der absoluten Zeit, dem Tag des Herrn, zu verbinden, das Reich Gottes zu beschleunigen oder zu antizipieren.“
Gegen die Religionen ist der zunächst durchaus stichhaltige Vorwurf erhoben worden, sie würden das natürliche Interesse an den aktuellen Lebenswelten abziehen und auf ein illusionäres Jenseits vertrösten. Dadurch würde zu schnell und zu leicht der Wunsch nach Änderung und Besserung der ‚weltlichen‘ Verhältnissen beschwichtigt oder sogar betäubt. In diese Richtung geht ja die geflügelte Formel vom „Opium fürs Volk“.
Aber dieser Vorwurf ist nur zum Teil triftig.
Auf der anderen Seite hält der religiöse Entwurf einer Gegenwelt wach für alternative Optionen, für Wunsch- und Zielvorstellungen. Sie halten davon ab, sich resignativ abzufinden mit den real existierenden Nöten, Bedrängnissen, Ungerechtigkeiten. Sie widerstreben der normalen Tendenz, sich den Verhältnissen anzupassen, sich ihnen anzubequemen. So bleiben religiös gespeiste Gedanken und Vorstellungen ein Stachel im Fleisch. Wer sich nicht bequemen mag, bleibt für seine Zeitgenossen unbequem.
Vielen religiösen Zukunfts- und Zielvorstellungen, wie dem von Lévinas genannten „Reich Gottes“, mag ein Moment des Utopischen anhaften, das unvermeidliche Aroma imaginierter Paradiese. Sie gehen gegen alle geläufige Wahrscheinlichkeit und fordern beim mühsam erwachsen gewordenen Menschen immer wieder einen kindlich anmutenden Wunderglauben ein: “So ihr nicht werdet wie die Kinder …“.