virtueller Genuss

„Genieße froh, was du nicht hast“ ist das Motto des Lebenskünstlers in Franz Hessels (autobiographischem) Roman „Heimliches Berlin“ (1927).
Eine lebenskluge Empfehlung. Wer sie einmal in Augenschein genommen und wenigstens ansatzweise befolgt hat, wird erstaunt sein über den Gewinn an Geld und Zeit, den sie mit sich bringt, nicht zu reden von der Sensibilisierung eines Genießens, das in einer dem Konsum verfallenen und entsprechend eingerichteten Welt so leicht zugeschüttet und erstickt werden kann. Überall droht Überschwemmung, Übersättigung und danach ein klammer Kater, der nach vollzogenem Kaufrausch in Gemüt und Geldbeutel einzieht.
Der große Vorteil dieser Maxime ist, dass sie eine freundliche Gleichheit herstellt zwischen solchen, die sich von ihrer finanziellen Lage was leisten könnten und den anderen, die dazu nicht in der Lage sind.
„Seit ich diese Moral aufgefasst habe“, meint der Großstadtflaneur in Hessels Roman, „kann mir die Armut nichts mehr antun.“ Das ist, wie wir gleich hören werden, fast ernst und dabei ein wenig ironisch gemeint: “Ich brauche nicht in Läden zu treten, mir genügen Schaufenster, Auslagen, die riesigen Stillleben von Würsten und Weintrauben, rosa Lachs, Melonen und Bananen, gespreitete Stoffe, schlängelnde Krawatten, schmiegende Pelze, lastende Lederjacken. Mir genügt das Schauspiel der Aus- und Eingänge. Drehtüren schaufeln mir Diplomaten und Herzoginnen, junge Boxer und Dollartöchter zu. Ich brauche nicht in den großen historischen Film zu gehen, mir genügen die Renaissancebausche, Koller und Trikots der bunten Bilder am Eingang. Reklamen an Hinterhauswänden längs der Stadtbahn, in Wartehallen und auf Glasscheiben der Untergrundwagen, Titel, Aufschriften, Gebrauchsanweisungen , Abkürzungen, da hast du ja das ganze Gegenwartsleben, ablesen kannst du es im Vorübergehen, brauchst nichts anzufassen, es zerfiele dir doch nur in den Händen zu grauer Asche der Vergangenheit. Nimm nichts, sonst musst du es wegwerfen wie neulich der rasend gewordene Dielenbesitzer, der allen Schmuck seiner Geliebten, Perlen, Ohrringe, brillantenbesetzte Uhren, in großem Bogen, Stück um Stück, in den Kanal warf.“
Diese Schilderung kommt aus einer Zeit, als es noch keine Selbstbedienungsläden und Supermärkte gab, kein Fernsehen, kein Internet mit seinen vielfältigen Präsentationen, kein eBay und kein Amazon. Wenn Hessels Rat zum Genuss in der Abstinenz schon damals, in vergleichsweise frugalen Verhältnissen sich empfahl, dann doch erst recht in Anbetracht der opulenten Umstände, in die wir heute versetzt sind.
Natürlich wissen wir gut aus eigenen Erfahrungen, dass Nichthaben all dessen, was der Markt, was Schaufenster und Werbebranchen zu bieten haben, in der Regel mit einem ziehenden Gefühl in den Eingeweiden, mit den Symptomen einer realen oder eingebildeten Entbehrung verbunden ist. Bei jedem Gang durch die City wird ein Appetit geweckt, der, wenn er nicht gestillt wird, ein peinvolles Sehnen, ein Knurren in den psychischen Eingeweiden hinterlässt. Doch kennen wir auch – und diese Erfahrung lässt eben aufhorchen auf Hessels Empfehlung – doch kennen wir auch dieses fade Gefühl, das einen nach einer ausgiebigen Einkaufstour beschleicht, ein Völlegefühl bei fortbestehendem Appetit. Die Seele ist zerrissen von den Dingen, die in den Auslagen, auf den Einkaufstischen, in den Kühltruhen geblieben sind. Die Augen sind genervt vom Spektakel der Waren, die alle Aufmerksamkeit in sich hineinsaugen. Es bringt nichts oder nicht viel, viel nach Hause zu bringen. Und es ist allemal wenig und unnützes Zeug, verglichen mit dem Triumph, den eine enthaltsame, d.h. widerständige Seele für sich einfährt.
Der lebenskluge Genießer, den Hessel vor Augen führt, beschreitet den schmalen Grad, das schwankende Seil zwischen Askese und Abwehr, zwischen Einlassung auf den Sirenengesang und der Wahrung einer klugen Distanz zu den Ungeheuern, die am blauen und schimmernden Strand der kapitalen Warenwelt auf ihn warten.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert