Mistkäfer

An den Rändern der großen Ströme, Meere und Ozeane, wo eine gewisse gleichbleibende Wärme garantiert ist, lebt seit unzähligen Jahrtausenden eine Mistkäferart. Man kennt sie unter der Bezeichnung Pillendreher. So wird sie von ihrer Gewohnheit her genannt, die abgelegten Eier in Dung, Mist oder Schlamm einzurollen und diese kugeligen Gebilde wegzuwälzen an einen besonderen Ort. Dieser sollte in einer gewissen Entfernung von der Stelle weg sein, an dem das Geschöpf, zunächst noch in Gesellschaft seiner Artgenossen, das Material für die Kotkugel beschafft hat. Die Sicherheitsverwahrung an einem entfernten Ort ist eine Schutzmaßnahme gegenüber räuberischen Übergriffen, auch vonseiten der Artgenossen.
So schiebt jeder Skarabäus – dies ist der alte Name für diese Sorte Mistkäfer – seine Kugel mit den Hinterbeinen vor sich her. Jedes Geschöpf kann nur eine Kugel bewegen und lässt sich derselben und der damit verbundenen Aufgabe nicht berauben. Eben das gebietet ein Wegrollen auf dem schnellsten Wege, in möglichst gerader wegführender Richtung. Jedes Abbiegen von dieser kürzesten Verbindung zum sicheren Ort birgt die Gefahr, von einem Artgenossen, der ohne Kugel daherkommt, diese abgejagt zu bekommen.
Diese Tätigkeit im Dienste der Nachkommenschaft wird zu Tag- und Nachtzeiten verrichtet. Sie ist bereits im alten Ägypten beobachtet und bewundert worden. Aus ihr leitet sich der Skarabäuskult her, die Anschauung von einem Heiligen Käfer, dessen Abbilder in Smaragd, Obsidian, Holz, gebranntem Ton und allen möglichen Metallen man heute auf dem ganzen Erdball begegnet.

Im Glauben der antiken Welt war der ‚Heilige Käfer‘ eingeschlechtlich. Er brachte sich aus dem Mist- oder Schlammball, den er mit seinen Hinterfüßen vor sich her rollte, durch Selbstzeugung immer neu hervor. Neuzeitliche Beobachtung hat diese Mythe widerlegt. Von Eingeschlechtlichkeit und Selbstzeugung kann nach heutiger Erkenntnis keine Rede sein. Auch ist es, genau genommen, nicht der Skarabäus, sondern die Skarabäe, die ihr Ei oder Gelege in Schlamm, Dung oder Mist einhüllt und dann an sicherem Ort deponiert.
Dies geschieht auf kürzestem Wege, wie gesagt. Um es zu wiederholen: das Geschöpf will sich die Sicherung der Brut und die damit verbundene Arbeit des Mistkugelrollens auf keinen Fall entreißen lassen. Das gerade mal zwei Zentimeter große Wesen mit den schillernden Flügeldecken ist von dieser Aufgabe vollständig durchdrungen. Es erinnert an Sisyphos, der ohne Ende einen schweren Felsbrocken den Hang hinaufwälzte, in der vergeblichen Hoffnung, ihn am Ende des Hangs endlich über den Grat auf die andere Seite hinabstürzen zu können. Doch der Stein – wir kennen die Geschichte – kollert im letzten Augenblick wieder den Abhang zurück. Ein weiterer Unterschied: in der Anstrengung der Skarabäe steckt keinerlei Ingrimm oder Verzweiflung, sondern eher eine trotzige Leidenschaft. Sie zielt nicht nur auf den Erhalt der Gattung, sondern – so haben es jedenfalls die antiken Naturforscher gesehen – auf die Reproduktion oder Fortführung der eigenen Existenz. Sie waren der Ansicht, die Skarabäe würde ihre Mistkugel so eifersüchtig hüten, weil das darin keimhaft angelegte Leben ihr eigenes sei. Wie der Vogel Phönix aus seiner eigenen Asche hervorgeht, so sollte der Heilige Käfer aus dem gewälzten Kotballen zu neuem Leben auferstehen. Durch Selbstzeugung und Fortrollen erwirbt dieses Geschöpf seinen Anteil an künftigem Leben. Daher sein Name Käfer, kheper, was im alten Ägyptisch werden, ins Dasein treten / ins Dasein bringen bedeutet.
Die antiken Naturkundler haben also an eine Palingenese, an eine Art Wiedergeburt gedacht. Zugleich wurde es mit der Sonne in Parallele gesetzt, in Verbindung gebracht. Auch dies eine Kugel in fortwährender Bewegung, die im Westen untergeht und im Osten allmorgendlich aufersteht.
Der alte ägyptische Name kheper entspricht dem griechischen skarabaios und umfasst wie dieses die gesamte Käfergattung, Laufkäfer, Maikäfer und Marienkäfer mit eingeschlossen. Der Heilige Käfer ist mithin Käfer schlechthin. Der Naturhistoriker Aelian (170-240 n.Chr.) gibt dies in seinen „Thiergeschichten“ zu erkennen. In seinem Artikel „Von dem Käfer“ heißt es: „Der Käfer ist ein Thier ohne weibliches Geschlecht, und lässt seinen Saamen in die Mist-Kugel fallen, die er fortwälzt. Wenn er Dieses achtundzwanzig Tage gethan und sie erwärmt hat , so bringt er Tags darauf das Junge zum Vorschein.“* Doch hat ihn das Wälzen so erschöpft, dass der Erzeuger in dem Augenblick stirbt, in dem das Gezeugte aus der Kugel ins Freie schlüpft.
Die Erwärmung der Mistkugel, in der das Junge ausgebrütet wird, erfolgt nach neuerer Erkenntnis nicht durch Fortbewegung, sondern durch die Sonne. Auch dies ein Grund, warum das Tier mit dem Tagesgestirn seit jeher in Verbindung gebracht worden ist. Schildkröten und Schlangen bedienen sich der gleichen ausbrütenden Solarenergie.

Neuerdings haben Biologen der Lund Universität das Brutverhalten der Skarabäe in Südafrika untersucht. Die Forscherin Maria Dacke ist mit ihren südafrikanischen Kollegen durch ein Experiment zu aufregenden Ergebnissen gelangt. Sie hatten Skarabäen in einer sternklaren Nacht samt Dunghaufen ausgesetzt. Einem Teil der Käfer hatte man Kappen aufgesetzt. „Käfer, die die Sterne nicht sehen konnten, weil sie eine Kappe trugen, rollten ihre Kugeln in Schlangenlinien. Artgenossen ohne Kappe transportierten ihre Beute auf halbwegs gerader Linie. Da die Käfer auch in mondlosen Nächten recht gerade Wege zurücklegen, untersuchten die Forscher in Südafrika anschließend den Einfluss verschiedener Himmelsbilder. Die Versuche zeigten eindeutig, dass die Käfer sich nicht an einzelnen Leitsternen orientieren, sondern an der Milchstraße. Sie hilft ihnen, nicht versehentlich zum Dunghaufen zurückzulaufen. Dort besteht nämlich die Gefahr, dass Artgenossen ihnen ihre Kugel streitig machen.“ **
Es sei damit, meinen die Forscherinnen und Forscher, „erstmals überzeugend nachgewiesen, dass ein Insekt die Sterne zur Navigation nutzt.“

Dieser Kurzbericht wirft eine weiterführende Frage auf: der Überlieferung nach ist die Skarabäe auch – oder sogar in erster Linie – am Tage aktiv, im Sonnenschein, der den Nachwuchs im eingedrehten und in Umwälzung gebrachten Mistball ausbrütet. Die Nachtgestirne, Mond, Planeten und Galaxien sind dazu nicht geeignet. Wie hat man sich die tägliche Orientierung des Käfers vorzustellen? Gibt es da ebenfalls eine Anlehnung an die Sonne? Wäre denkbar, dass auch tagsüber die Milchstraße Navigationshilfe bietet, aber nicht über den optischen Sinn, sondern über ein noch unbekanntes Sensorium? „The beetle lays her eggs in a ball of dung and in the hot sunshine pushes the complete pellet backwards uphill with her hindlegs; then she lets it roll down again, and thus it reaches its place of deposit.” ***
Ad de Vries macht auf zweierlei aufmerksam: einmal auf das Pillenrollen als Tagesgeschehen, dann auf den Umstand, dass Unebenheiten im Gelände, Mulden, Anhöhen usw. ein geradliniges Fortschaffen des Balls unmöglich machen. Von der Geraden als der idealen und kürzesten Verbindung zwischen dem Ort, wo die Eier gelegt und eingewickelt worden sind und dem angestrebten Ort, an dem die Kugel deponiert wird, muss die Skarabäe immer wieder abweichen. Sie wird Steinen und tiefen Rinnen, wie sie der Nil im Schlamm gezogen haben könnte, immer wieder ausweichen und sich neu orientieren, weg vom Ausgangpunkt. Es geht bergauf und bergab. Das kostet Kraft. Die verbrauchte Energie muss durch Nahrung ersetzt werden. Die besteht, wenn man den ältesten Beobachtungen glauben darf (die wurden eben im Nildelta angestellt) aus den Aasresten kleiner und größerer Tiere, die bei der jährlichen Überflutung des Stroms ihr Leben eingebüßt hatten. Der merkwürdige Umstand, dass das Tier selbst, ähnlich wie Krebse und Amphibien, diese periodischen Überschwemmungen überlebt, vielleicht durch eine Art Wegtauchen im Schlamm, hat dem Wiedergeburtsnimbus der Skarabäe den zusätzlichen Glanz von Unsterblichkeit verliehen.
Was schließlich die Geltung der kunstvollen Skarabäusreproduktionen, der Skarabäen im engeren Sinne betrifft:
„Die Bedeutung als Glücksbringer und Schutzsymbol resultiert daraus, dass Skarabäen das Nilhochwasser angeblich frühzeitig spüren. Die Tiere wanderten weg vom Wasser, tauchten in den Häusern auf und kündigten so den Ägyptern das ersehnte Nilhochwasser an.“ ****

Abschließend noch eine, möglicherweise wegführende Frage zum Experiment:
wäre der Zickzackkurs, den die verkappten Skarabäen einschlugen, vielleicht auch zurückzuführen auf die Verwirrung, in die sie durch die Sonderbehandlung durch die ExperimentatorInnen gerieten? Also nicht nur auf die optische Beeinträchtigung? Ein gesichtsunabhängiger, auf spezifische, z.B. elektromagnetische Emissionen der Milchstraße bezogener Leitsinn würde durch die Kappen zwar nicht behindert werden, aber die allgemeine Störung durch den Eingriff könnte auch hier für die Irritation mit verantwortlich sein.

*) Claudius Aelianus, Werke. 2. Abt. Thiergeschichten, Stuttgart 1842, Buch 10, 15, S. 800

**) kurzer Bericht dazu in der HAZ vom 25. Januar 2013, dpa-Meldung aufgrund eines Artikels im Fachblatt „Current Biology“

***) Ad de Vries, Dictionary of Symbols and Imagery, Amsterdam/London 1984³, „scarab“

****) Wikipedia, Art. „Skarabäus“, abgerufen am 27.01.2013

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