Blicke 1

Blick und Auge gehören zu den magischen Funktionen, bzw. Organen.
In nahezu allen früheren Kulturen findet sich der Glaube an die Fähigkeit, mit dem Auge aktiv schlimme Wirkungen hervorzurufen. Diese Fähigkeit wird teils angeboren gedacht, teils erlernt oder erworben. Ein Pendant dazu gibt das Phänomen der Hypnose. Es könnte sein, dass mit dem sprichwörtlichen bösen Blick, italienisch mal occo, hebräisch ain ha’rah usw. eine bösartige oder böswillige Form der Hypnose, ein verderblicher Einsatz von Suggestion gemeint ist. Dass die Kraft oder problematische Begabung mit einer destruktiven oder zumindest problematischen Potenz, die im Gesichtssinn liegt, heute völlig verschwunden sei, erscheint bei näherem Befassen eher unwahrscheinlich. Weitgehend verschwunden ist allerdings der Glaube daran. Archaische Atavismen existieren und wirken, wenn sie nicht mehr zeitgemäß sind, gerne in Verkleidung, Verhüllung oder unterschwellig fort.

„Bereits 1910 hatte der renommierte Augenarzt Dr. S. Seligmann sein erstes Werk über den ‚bösen Blick‘ erscheinen lassen. Doch sein wissenschaftliches Denken und das Sammeln reichhaltiger, seltener Materialien, Belege, Zeugnisse und Dokumente ging weiter – bis schließlich 1921 sein inzwischen klassisch gewordenes … Werk erscheinen konnte.“ *
In eben diesem Werk bemerkt der Autor eingangs zu einem Kapitel, das eben mal knappe acht Seiten umfasst und den Titel „Der gute Blick“ trägt:
„Während es einerseits Wesen gibt, die mit ihrem Blicke nur Unheil anrichten können, so gibt es andrerseits auch Wesen, deren Augen Heil und Segen bringen, die den guten Blick haben.
Bei der verschwindend geringen Menge des Guten, das es auf Erden gibt, spielt allerdings der gute Blick im Gegensatz zum bösen Blick nur eine sehr kleine Rolle.“ **

Tatsächlich beschränken sich in den volkstümlichen Vorstellungen der Völker die Fälle von gutem Blick auf eine Handvoll Beispiele. Er wird ganz wenigen exemplarischen Menschen zugesprochen, Hunden, sofern sie bestimmte, sehr seltene Merkmale aufweisen. Bei einigen transsylvanischen Sintisippen gelten weiße Hunde als fähig, eine sterbende Person in ihrer Todesstunde vor bösen Geistern dadurch zu bewahren, dass sie derselben ins Angesicht schauen. Seligmann erwähnt auch eine weiße Schlange, die in Fernost in einem Brunnen haust, aus der Tiefe gelegentlich hervorsteigen soll und diejenigen von ihren Leiden befreit, die, über den Brunnenrand gelehnt, Gelegenheit finden, ihr ins Auge zu schauen.
Doch bleibt Seligmanns Erklärung mit der ‚verschwindend geringen Menge des Guten‘ auf Erden unbefriedigend. Man könnte eine andere Deutung versuchen: in der Regel ist jeder Blick, als Ausdruck von Zuwendung, von Interesse, von Teilnahme ein guter Blick. Der gute Blick bildet die Normalität. Er ist unauffällig, so gut wie selbstverständlich. Das bringt ihn und seine Wirkungen zum Verschwinden.

*) Dr. S. Seligmann, Die Zauberkraft des Auges und das Berufen, Reprint o.J., Verlag  J. Couvreur, aus dem Klappentext.
**) Seligmann, S. 450

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