vom Wohin und Woher der Gedanken 2

„Wenn man wirklich wüsste, was mit den eigensten Gedanken geschieht, würde man sich wohl davor hüten, je einen zu haben.“ *
Aber dieses sich Hüten, wie kann das überhaupt geschehen? Sie setzen sich ja immer und überall durch, durch dick und dünn finden sie Einlass und Zugang. So schwierig es ist, einen bestimmten Gedanken zu haben, oder nur von freundlichen oder nur nützlichen Gedanken umgeben zu sein, so unmöglich ist es, sie nicht zu haben, keinen Gedanken zu haben.
Ein paranoischer Mensch hat sie einmal mit Erinnyen und Furien verglichen. Andere unterstellen ihnen eine Ähnlichkeit mit Motten und Flöhen, weil sie blutsaugerisch und schwer zu hüten seien.
Ja, richtig, auch einen Zirkus kann man mit ihnen machen.
Doch bleiben sie unsichtbar, Gesten und Worte dienen ihnen bloß zur Tarnung oder zur Weiterbewegung. Gegen vielfache Behauptung: sie lassen sich nicht lesen.
Mit Bestimmtheit wüsste man besser, wie einem geschieht, wenn in Erfahrung zu bringen wäre, was mit den Gedanken geschieht, die einen durchgangen haben.

Ein Gedanke, jeder Gedanke hat zahllose Hände und Seiten, die er nach überall hin ausstreckt, um neue Verbindungen einzugehen, wie Atome und Moleküle. Für einen Gedanken ist es schwer, allein zu bleiben, wie für einen Glutfunken, der am liebsten zusammen mit anderen sprüht. Geselligkeit ist Elementarmodus oder –trieb alles Geistigen. Wenn ein einzelner Funke ins Dunkel gerät, so ist das für einen Augenblick faszinierend zu sehen, aber schnell ist es darum geschehen.

Aus dem Wenigen, was wir über das Leben der Gedanken wissen, scheint eines zumindest sonnenklar auf: es ist unmöglich und geradezu lächerlich, an diese windigen oder hauchartigen Wesen Besitzansprüche zu stellen. Die Köpfe, Nieren, Augen, Herzen und Hände, aus denen sie hervorgehen, sind jeweils zufällige und geradezu austauschbar erscheinende Brut- oder Zeugestätten. Und nicht einmal das: wo sie zur Welt kommen, haben sie oft schon eine lange und an Wechselfällen reiche Geschichte hinter sich. Doch ihre Verwandlungen machen sie unerkennbar, verbergen ihre Herkunft und machen ihren Fortgang unvorhersagbar.

*) Elias Canetti, Nachträge aus Hampstead, 1994, 46, s.o. 10. Februar 2012

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