Als Kind hatte ich geglaubt, mein „Nächster“, das ist jemand, der Not leidet, dessen ich mich anzunehmen habe. Eine moralistische, jeder spontanen Liebesregung zuwiderlaufende Nötigung. Erst viel später habe ich den Begriff des Nächsten anders verstehen und akzeptieren gelernt.
Wer ist mein Nächster? lautet eine an Jesus gestellte Frage, die dieser mit der bekannten Erzählung vom barmherzigen Samariter beantwortet: ein Mensch wandert von Jerusalem nach Jericho und fällt unter die Räuber. Sie lassen ihn halbtot liegen. Nacheinander kommen drei Leute vorbei. Die beiden ersten lassen ihn liegen. Erst der dritte, ein Reisender aus Samaria, ein Ausländer, kümmert sich um das Opfer.
Die Pointe dieser Parabel oder Erzählung liegt darin, dass nicht der Überfallene, sondern sein Helfer ausgewiesen wird als „Nächster“. Er ist „derjenige, der dem unter die Räuber Gefallenen zum Nächsten geworden ist“ *, ohne Ansehung irgendwelcher religiöser oder landsmannschaftlicher Affinitäten. Opfer und Helfer sind einander fremd und kommen sich in einer desperaten Situation nahe. Der „Nächste“ lässt Unglück und Elend des anderen an sich heran. Es geht ihm nahe. Eben aus dieser Einlassung heraus wird der Fremde aus Samarien zum „Nächsten“ dessen, der unter die Räuber gefallen ist.
Das Nächstenverhältnis konstituiert sich also von dem her, von dem das tätige Erbarmen ausgeht. Es gibt weder einen Nächsten noch eine Nächste ohne Mit-fühlen. Räumliche, zeitliche, verwandtschaftliche, soziale, gesellschaftliche usw. Nähe oder Übereinstimmung stiften hingegen keine Nächstenbeziehung.
Der aktiven Erbarmenserfahrung, die der Retter durchmacht, kommt die passive Erbarmenserfahrung des Geretteten entgegen. Erst die so vereinte oder ‚geteilte’ Erfahrung hat Wirkgewalt. Sie gestattet dem Opfer, sich als Nächster oder Nächste derjenigen Person zu sehen, die sich ihrer angenommen hat. „Nächstenliebe“ ist dann doppelt, objektiv und subjektiv: Liebe des Nächsten und Liebe zum Nächsten
Aus der Nächstenliebe lernt die Selbstliebe: wie der Nächste sich meiner annimmt, so auch ich.
*) Lukas 10, 36
Ein schöner Text – wir hätten diesen beim letzten Philosophentreffen als Vorlage haben sollen.