Jona

Am Ende einer längeren Wiederbeschäftigung mit dem Schattenmotiv auf den Schatten des Jona gestoßen. Der Prophet hat der Stadt Ninive im Auftrag Gottes den nahen Untergang verkündet. Nun findet sich der Ausrufer des göttlichen Strafgerichts auf einer Anhöhe wieder, östlich der Stadt zurückgezogen. Dort harrt er der geweissagten Dinge, dass sie eintreffen, dass sie sich auch einlösen mögen (oder auch nicht).

Die Zeit bis zur Deadline zieht sich dahin, glühend heiße und schattenlose Tage. Jona könnte davon gehen. Er hat seinen Auftrag erfüllt. Aber irgend etwas hält ihn und lässt ihn nicht los. Wartet er auf den angekündigten Untergang und will er sehen, ob auch alles so eintrifft, wie er vorausgesagt oder zumindest angedeutet hat? Interessieren ihn die Details der Vernichtung, das Flammenmeer, der Anblick des Todesengels, das grassierende Unheil?

Oder ist es Neugier, ob Gott auch zu seinen Ankündigungen stehen wird? Steht Gott zu seiner negativen Verheißung? Wird er sie vernichten, diese Leute, von denen der Prophet vielleicht ahnt oder vorausweiß, dass sie einst sein eigenes Volk heimsuchen werden?

So weit die Umstände es zulassen: Jona macht’s sich bequem, macht es sich im Übergang und Vorübergang der vierzigtägigen Wartezeit und Karenz notdürftig wohnlich. Auf der Anhöhe, von der er Ninive vag überschaut, diese Stadt, zu deren Durchquerung er bei der Verkündigung des angedrohten Untergangs drei Tage gebraucht hat, richtet er sich in einer Hütte aus Laub ein. Ein dürftige, eine notdürftige Unterkunft, die ihn vor der stechenden und sengenden Sonne schützen soll, die in diesen Tagen über Ninive hinweggeht, Tag für Tag.

Der Aufenthalt im Bauch des Fischs, ja, schon der Aufenthalt im Bauch des Schiffs, das seinetwegen in Seenot geraten war, haben Jona empfindlich gemacht für Hitze und grelles Licht: seinen mit weißer Haut bedeckten Körper, sein von dünnem und lichtem Haar bedeckten Schädel.

Jona zieht sich in den Schatten der Laubhütte zurück. Dort schläft er und von dort starrt er unverwandt auf die Stadt und weiß selbst nicht, was ihn da in den Bann zieht. Sind es die Bußriten, die zum Teil vom König verordnet sind und Mensch und Vieh erfassen, so dass die Menschen nur noch in Säcken umherlaufen, wehklagend und einander Asche aufs Haupt streuen? Alle fasten und sogar die Tiere in den Käfigen, in den Ställen, aus einer Art Sympathie heraus sogar auch die frei fliegenden Schwalben und Spatzen, die Amseln und Echsen, die Maulwürfe und Schlangen, ja, auch und sogar die Schlangen enthalten sich jeder schmackhaften Speise, jeder Nahrung, die mehr als nur das Lebensnotwendige deckt.

Diese Einhelligkeit der Bußübungen und Besserungsbemühungen fasziniert Jona. Eine solche Einmütigkeit hätte er nimmer und nirgends für möglich gehalten. Natürlich weiß er, Ninive lässt sich mit Jerusalem nicht vergleichen, Jerusalem ist ohnegleichen. Und dennoch betrachtet er dieses geschlossene Handeln, diese einmütige Umkehr, gerade weil sie Menschen und Tiere in gleicher Weise erfasst oder vielmehr gepackt hat, mit großer, mit immerfort wachsender Unruhe und weiß selbst nicht warum.

Die Tage gehen in drückender Hitze und unter sengender Sonne dahin. Der dürftige Schatten, den die Laubhütte in den ersten Tagen gewährt hat, schwindet dahin mit dem Welken der Blätter. Und dennoch kann sich Jona nicht dazu entschließen, den Dingen ihren Lauf zu lassen, der Stadt und dieser Gegend, in die er ja nicht aus freien Stücken gekommen ist, einfach den Rücken zu kehren, endlich und endgültig.

Es gibt Momente, die ihn dem Aufbruch ganz nahe bringen, wo er sich von seinem Sitz im durchlöcherten Schatten der Hütte erhebt und westwärts späht, wo in der Ferne Jerusalem liegt und heimatliches Land. Aber immer wieder gerät der Anblick der Metropole dazwischen, dieses Ninive, in dem es wie in einem Ameisenhaufen wimmelt von grauen, in Sackleinen gekleideten Menschen und Tieren, die durstig und hungrig, aber fast still, klagend und klaglos zugleich in ihren Ställen und Pferchen ausharren. Bei diesem Anblick nimmt Jona neuerlich Platz und stützt das Kinn in die Hände und der Blick, dieser Anblick und die Erwartung dessen, was daraus sein wird, lässt ihn nicht los.

Und da – im Frührot eines dieser schier unerträglichen, an Feueröfen gemahnenden Tage, nimmt Jona wahr, dass über Nacht ein großes und laubreiches Gewächs neben seiner Hütte aufgeschossen ist. Er sieht noch den Rest der Sterne darin und Reste der Nacht, Schatten und Laub und das sanfte Spiel der Reflexe, die ein auf einmal zart erscheinender Morgenhimmel in die Laubkrone wirft.

Ein Zeichen, sagt sich Jona, ein Zeichen und Wunder zugleich. Wunderbaum nennt er es, kikayon, kikaion, qiqajon … Es schönt Jonas Leben, das schon so ausgetrocknet und dürr geworden war wie die angehäufte Bank aus Sand, die sich unter seinem Hintern beim Sitzen und Betrachten ausbreitet. All die unguten Vorahnungen und Ungewissheiten, das Schicksal der Stadt betreffend, all die Zweifel an der Kraft und Wahrheit seiner Berufung als Prophet sind wie weggeblasen. Als wäre zugleich damit auch seine Standesehre, das Ethos des wahren Propheten gegenüber allen falschen und trügerischen Wahrsagern und Hellsehern, wieder hergestellt, nun ohne Fleck und Makel erglänzend. „Ich bin glücklich“, spricht Jona an diesem Morgen vor sich hin, „mein Gott liebt mich, er stimmt meinem Bleiben zu, er wird bestätigen, was zu verkünden er mich ausgeschickt hat…“

Dieser Tag unterm Wunderbaum, im Schatten dieses lebendigen und gottgegebenen Zeichens, „dies ist der glücklichste Tag unter allen meinen Tagen“, denkt und spricht Jona bei sich selbst. Für einen Augenblick, dem Genuss und Wohlgefallen dieses Schattens hingegeben, lässt er auch Ninive und das dortige Treiben aus dem Blick und fühlt den Horizont, wie er sich weitet wie ein Wellenkreis um diese Mitte, in der er, ein Begnadeter, ein Erleuchteter sitzt. Angekommen unterm Wunderbaum, im köstlichen, im bezaubernden Schatten eines Baums, der mehr als bloß Schatten von Weinstock und Feigenbaum ist, die in den Wünschen und Träumen seines Volkes figurieren und vollkommenes Leben sinnbilden.

An jenem Tag war Jona, wie ihm selbst schien, angelangt zu seiner wahren Bestimmung.

Nichts hätte ihn an diesem Tage kränken können, ihn, den die Vorahnungen noch Tage zuvor, die Zweifel an der Verlässlichkeit Gottes und die Fragwürdigkeit der eigenen Berufung dem Tode näher gebracht hatten als dem eigenen Leben. Alles schien gut, jetzt und auf einmal.

Dann aber, nach einer Nacht, die Jona unter Schatten und Schirm des Wunderbaums zugebracht hatte, liegend und träumend außerhalb seiner verdorrten und zerfallenen Hütte, geborgen wie unter dem Flügel eines der Engel, die Gott zum Schutz seiner besonderen Schützlinge ausschickt, im Aufgang eines Morgens und als er die Augen zur Betrachtung dieses werdenden Tages aufschlug, da fiel sein Blick in eine durch Wurmfraß zerstörte Baumkrone, aus der alles welk und trostlos, unrettbar verdorben und verloren herabhing.

In diesem Augenblick ungewisser Erkenntnis wurde Jona gepackt von allem Leid dieser Welt.

Alles Elend stürzte sich auf ihn, wie auf eine leichte, lang und hungrig erwartete Beute, wie ein Rattenrudel in unterirdischen Schächten auf Aas.

Die Sonne stieg aus dem Osten höher und höher empor. Sie brannte, sengte und stach. Sie schlug und stach in den Schädel des Jona, wie der Wurm in der Nacht zuvor in die Wurzel und Krone des Baums geschlagen und gestochen, den göttlichen Baldachin gebrandschatzt hatte, der von himmlischen Kräften in der Nacht zuvor ausgebreitet worden war.

Jona ging es an diesem Tage schlecht wie nie in seinem Leben zuvor. Denn Gott beließ es nicht dabei, sondern ließ einen glühenden Wind aus Osten aufkommen, so dass Jona mehr seinen Tod wünschte als weiter zu leben. Und in diese Ohnmacht hinein, ins Delir zwischen Hitzschlag und Sonnenstich, redet dann Gott:

„Ist es recht, dass du wegen des Wunderbaumes zürnst?“

Jona: „Richtig, ich bin zu Tode erzürnt!“

Gott: „Dass der Wunderbaum, der als Sohn einer Nacht entstand und als Sohn einer Nacht zu Grunde ging, das ärgert dich, aber der Untergang Ninives, der großen Stadt und all der darin befindlichen Menschen und Tiere, das bekümmert dich nicht?

Das ist dann auch schon das Ende des Buchs.

Die Antwort des Propheten bleibt in Schweigen gehüllt.

Es ist dem Leser überlassen, sie  vielleicht auszuwickeln, vielleicht hineinzuhören in diesen offenen und schweigenden Raum.

 

Aber wir wollen bescheidener bleiben, das Ausbleiben einer Rechtfertigung oder Erwiderung auf die göttliche Belehrung achten und lieber im zerstobenen Schatten des Wunderbaums nachforschen, welche Bewandtnis es hat mit diesem sonderbaren Gebilde oder Gewächs. Das hat Naturforscher und Sprachkundige bis heute beschäftigt.

kikayon hat einige Metamorphosen durchlaufen. Die ersten Übersetzer des hebräischen Textes ins Griechische, die Gelehrten der Septuaginta, gingen von Kolokynthe, einer Kürbisart aus. In der lateinischen Vulgata fand die Umwandlung in Efeu statt, hedera.

 

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Von Dürer gibt es einen Kupferstich, welcher Hieronymus, den Verfertiger dieser lateinischen Bibelübersetzung, bei der Arbeit zeigt. „Hieronymus im Gehäuse“ ist der Titel dieses Bildwerks, 1514 entstanden. Dort taucht in der rechten oberen Bildecke ein von der Decke der Studierstube herabhängender Kürbis auf. Er fängt den Blick des in diesen Raum eintretenden Betrachters auf. Natürlich wächst er nicht von der Decke herab, sondern ist an dieser in einer verborgenen Weise aufgehängt. Aber wiederum auch nicht bloß aufgehängt, weil er offensichtlich in Saft und Kraft steht, zugleich mit einem keineswegs verwelkten Blatt und einer frischen Ranke, die sich frisch und kraftvoll durch den Raum windet.

Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, dass der Gelehrte selbst – wir sehen ihn samt Schreib- oder Lesepult und Heiligenschein ins Studium vertieft – dieses Gewächs am Plafond angebracht haben sollte. Man möchte eher, wie in der Jonageschichte, eine mirakulöse Entstehung vermuten.

Aber wozu ein so prachtvoll gediehener und offenbar weiterhin gedeihender Kürbis in der Studierstube eines Gelehrten? Soll er an die Pflanze des Jona erinnern, zu deren Verwandlung aus einer Kolokynthe in die heute beglaubigte Rhizinusstaude Hieronymus maßgeblich beitrug? Oder spielt die üppige Frucht auf die Cucurbiten der alchemistischen Naturforscher an, zur Destillation und Sublimation verwendete Glaskolben, ihrer bauchigen Form wegen nach dem Kürbis benannt?

Eine zum Teil überzeugende Auskunft liefert das Arrangement von Totenschädel und Sanduhr, das auf einer Linie mit der herabhängenden Frucht liegt und auf Zeitlichkeit und Vergänglichkeit weist. Richtig. Und auf der Linie dieser klassischen Vanitas-Symbole befindet sich auch, an der Wand hängend, der breitkrempige Hut, eine Art Sombrero. der das ikonographische Erkennungszeichen des Hieronymus darstellt

Solch ein Hut ist zu vielerlei gut, vor allem aber dazu, einen haarlosen Schädel, eine Glatze wie die, welche der tief versunkene Gelehrte dem Betrachter zuneigt, vor brennender und stechender Sonne zu schützen. Natürlich draußen, hier in der Stube setzt man ihn ab.

Auch Jona wäre es vielleicht besser ergangen mit so einem Hut bei sich, damals auf der Anhöhe vor Ninive. Aber hätte ihn der Schatten eines solchen Hutes ebenso erfreut und beglückt wie der bergende Schatten des Wunderbaums?

kikaion“ meint die Internetseite aish.com, „is a life of a day, something who give us mercy and attention …“ 

Intention: dem Schatten eines Baumes, dem Schatten eines Hutes, dem Schatten einer Pflanze nachspüren.

Aber war es überhaupt ein Schatten im gewöhnlichen Sinne, in dem Jona das höchste Glück seines Lebens erfuhr?

“Jonah was exceedingly glad because of the vine”, steht in der “World English Bible”.

Vielleicht war der Wunderbaum ganz schlicht eine Art Rausch, der Effekt einer uns bis heute verborgen gebliebenen, vielleicht körpereigenen Droge. Das Schattenhafte passt zur Kennzeichnung von kikaion als „Sohn einer Nacht“. Berauschende und entrückende Substanzen sind in der Mehrzahl „Kinder der Nacht“, Argumente einer Seite des Daseins, einer Innenseite der Leiblichkeit, die gerne aus der Helligkeit, aus aller begrifflichen und begreifbaren Klarheit weggerückt und entfernt wird, dann aus eben dieser Entfernung Entrückung agiert.

 „Jonah was exceedingly glad“… 

In neuester Zeit meint man sogar den Wurm gefunden zu haben, durch den die Pflanze vernichtet werden konnte. Die Schmetterlingsforscher haben einen Namen dafür. Wir haben ihn leider vergessen.

 

Und hier noch einmal Jona, nun jäh aufgerichtet, nicht mehr im schadhaften Schatten seiner Laubhütte kauernd und lauernd:

 

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