25.11.90
ANSPRECHEN UND ANSCHREIBEN
Wie Sprechen, so geschieht auch alles Schreiben, gerade auch das freie Schreiben, auf andere hin.
Wären die Anzusprechenden nicht manchmal abwesend, weit weg oder noch gar nicht geboren – es wäre nie zur Entstehung von Schreiben aus dem Sprechen gekommen.
Es wäre beim Sprechen oder beim Schweigen geblieben.
Aber dann ist das Schreiben aufgetreten, wie das Sinnen aus einer Triebhemmung, aus einem Innehalten.
Begreifende und Schreibende stimmen darin überein, dass sie innehalten und eine aufschiebende Verrichtung vornehmen.
Um zu schreiben, muss man das Sprechen verlangsamen oder verlassen. Das Schreiben kommt sonst nicht nach und wird von Worten und Lauten abgelenkt, statt sie zu fassen.
Das Schreiben ist ein Begreifen, an dem die Hände und Finger beteiligt sind, auch heute noch.
Schreibakte beinhalten Aufschub, Verzug, ein hinaus-Zögern.
Manchmal gerät das, was ein Autor im Schreiben aufschiebt und gleichsam ins Kommende auslagert, erst viel späteren Lesern in den Blick.
Heute wird es geschrieben und kommt womöglich erst in fünfzehn Minuten oder einhundertvierunddreißig Jahren in den Sinn.
schreiben ist wie denkendes sprechen