gegen 20 Uhr / Träume

gegen 20 Uhr

Gegen zwanzig Uhr, wenn die Abendsonne hinter den westlichen Anhöhen verschwindet und deren Schatten auf der Felswand gegenüber aufsteigen, erscheinen die höher gelegenen Schneemassen in ein noch helleres und strahlenderes Weiß getaucht. Zwischen der unerbittlich ansteigenden Schattenkante und der schroffen Linie, die der Himmel die ganze Zeit über unerbittlich beibehält, bei Tag und bei Nacht, winters wie sommers, treiben mal hell aufgebauschte, mal dunkel getunkte Wolkenmassen ihr Wesen. Sie geben sich manchmal durchscheinend, wie Imitate des Firns, über den sie hinweggleiten. Manchmal zerreißen ihre Bäuche und sie werden zu Nebelfetzen, aus denen Wasser und Dunkelheit sintflutartig herabströmt. Dann klappen die Leute in Mürren ihre Fenster und Vorhänge, im Winter sogar die Holzläden zu und knipsen die Bildschirme an, um Anschluss zu finden an eine weniger gespenstische Welt.

Träume

Was man in Mürren träumt während der Nacht, ist Traum wie überall in der Welt und nur im Einzelfall anders.

Man träumt von den Dächern herab, die hier so hoch sind wie anderswo die Dächer der Welt.

Die Schindeln, auch die aus Blech, fliegen im freien Flug durch die Nacht. Sie erinnern an winzige fliegende Teppiche, nur dass sie eben starrer und eben aus Blech oder Holz sind.

Manchmal treten in die Träume, als wären es Ställe, Schafe und Ziegen herein. Sie legen sich auf Bündel, die aus Heu oder abgeschnittenen Kräutern gehäuft sind. Dort machen sie es sich neben menschlichen Schläfern  bequem. Ihr Schnarchen hält diese wach bis weit in die Nacht.

Erst nach Mitternacht, wenn den Schnarchern Flügel wachsen und sie davon aufwachen, versinken alle übrigen Wesen in einen tiefen Schlaf, der gut bis in den Morgen anhält.

   

Wie überall fließen auch in Mürren die Träume aus den Sternen herab. Aber hier hängen die Sterne an den Gipfeln fest wie Blitze am Blitzableiter. Auch das Rauschen der Bäche, die todesmutig und kühn aus großen und nächtlichen Höhen herabspringen, fließt in die Träume der schlafenden Wesen ein. Die Fliege, die sich unter einen gebogenen Grashalm geduckt hat, wird davon ebenso durchdrungen wie das Murmeltier, das holzgeschnitzt sein sonderbares Leben hinter einer Glasscheibe zubringt.

Mürren ist ein Ort, wo viel und üppig geträumt wird. Die Sommergäste bringen mancherlei mit, aber gespeist wird das ganze vom Firmament, das auf geheimnisvolle Weise an die hiesigen Gipfel festgebunden erscheint.

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