Gegen 17 Uhr Rückkehr auf den Fensterplatz gegenüber der vertikalen Steinwand. Überall im Ort gibt es diese Fensterplätze, Logenplätze ersten Rangs. Manchmal ansatzweise verstellt durch den Nachbargiebel oder einen der hellen Laub- oder Nadelbäume, die hier unmotiviert wachsen zwischen Häusern aus Holz, Stein und Plastik. Manchmal ist es auch eine Fahnenstange, an der sich ein rotweißes Tuch bewegt mit einem schwarzen Steinbockkopf.
Die Ortschaft ist autofrei. Trotzdem kurven gelegentlich Kleinlastwagen und Traktoren durch die schmalen Sträßchen und Gassen, unter beträchtlicher Lärmentwicklung, denn es geht hier immer wieder steil bergauf und bergab und die zu befördernden Lasten sind schwer, sofern es sich nicht um frisch gemähtes Heu handelt.
Der Platz vis-à-vis der Felswand ist gesichert. Von hier aus gibt es auch noch das wuchtige Jungfraumassiv zu sehen, die nach Westen anschließenden Schneeberge, zu denen das Gespaltenhorn zählt. Aus den Höhen wälzen sich Gletscher herab, eine aussterbende Spezies auch in dieser hochalpinen Region. Wahrscheinlich ziehen diese gigantischen Panoramen mehr Blicke auf sich als die vielleicht auch irgendwie alltägliche Wand des Schwarzen Mönchs mit ihren schwindelerregenden Steinbändern, Zerklüftungen und handbreiten Simsen, auf denen eine unbekannte Vegetation sich festgekrallt hat.
Wie von allen lotrecht herabstürzenden Gebirgswänden geben selbst die genauesten Karten, die es hier gibt, im Maßstab 1:25 000 ist das, von diesem Naturphänomen keinerlei Bild oder Eindruck. Fünf, zehn oder zwanzig Höhenlinien verschwinden in einer einzigen. Und im nordöstlichen Bereich, wo der Schwarze Mönch durch die Trümmelbachschlucht begrenzt wird, erscheint die sonderbare Benennung Mönchsbüffel. Oder hieß das Büffelmönch?
Die Entstehung von Flurbezeichnungen und geographischer Namen gehört zu den rätselhaftesten Erscheinungen überhaupt. Warum so und nicht anders? Wie kommt es, dass eine Bezeichnung erfunden, aufgenommen und dann durch die Jahrhunderte tradiert wird? Dass Mürren so heißt, weil es wie auf einer Mauer liegt, leuchtet noch ein. Aber dass eine graue Gesteinsmasse mit einem schwarzen Mönch in Zusammenhang gebracht wird – wer kann da noch durchblicken?
Während die Gedanken diese sprachtheoretischen und ausdruckslogischen Gänge einschlagen, ist durch die Neigung des Tageslichts die Wand ein wenig ergraut. Grau ist sie immer, aber das jetzige Grau, für das sich kein spezifischer Name finden lässt, ist irgendwie grauer als zuvor. Auch die grünen Flecken scheinen davon überzogen. Die holzigen Gewächse in der Wand erscheinen graugrün, die Grasmattenfragmente haben den verhaltenen Glanz grüner Oliven.