Sichtung

Im Frühjahr aus Kalifornien zurück. 1961 und 62, mit dem Schiff, weil Fliegen damals noch unerschwinglich war. Im Gepäck Erinnerungsstücke, die dokumentieren sollen: sie ist unerhört und sonderbar, diese Welt jenseits von Europa!

Unter den Mitbringseln große, aus Illustrierten herausgetrennte Farbfotografien.

Jetzt, ein halbes Jahrhundert danach, sie noch einmal durchsehen, durchgehen, um sich endlich von ihnen zu trennen. Beinahe unmöglich, der ursprünglichen Faszination auf den Grund zu kommen. Schwer nachvollziehbar, warum man sich auf der Rückreise quer durch den Kontinent und über den Atlantik zurück mit diesen Papieren bepackt hat.

  • Erstes Bild: eine gekippte Landschaft in der Tiefe, über der ein Fallschirmspringer schwebt, den Schirm noch zusammengepackt.
  • Dann ein See mit Schilf, über dem es dampft.
  • Ein Blick in den Regenwald, aus mittlerer Höhe aufgenommen.

In dem Spiralblock, dem die ausgeschnittenen Bilder eingeklebt sind, folgen ein paar leere Seiten. Die Illustrationen, die hier einmal eingeklebt waren, sind irgendwann einer andersweitigen Verwendung anheim gefallen.

Fünf oder sechs Leerseiten später

  • Blick auf und über Barcelona, Türme und Dächer, alles in braunroten Ziegeln.

Weitere Leerseiten und am Rande als Notiz: „mit anderen Rosen versetzen“.

  • Illumination aus Indien oder Iran: Mann mit weißem Turban, in saftgrünem Gewand, das bis zu den Knöcheln der nackten Füße herabwallt. Das Reittier, auf dem er sitzt, ist gekrönt und schaut mit menschlichem Antlitz seitlich zwischen Feuern hindurch, die über den gesamten Wasser- oder Himmelsraum ausgestreut sind. Sie flammen aus blauem Grund auf.

Es folgt

  • Bildrest, bestehend aus schmaler Rahmenleiste in Gold. Das davon umlaufene Rechteck ist leer, wahrscheinlich geplündert.

 Übernächste Seite:

  • Pilger, Gläubige, Angehörige einer fremden Religion, steigen eine Treppe empor. Oben ein Absatz, über dem Rauch hängt, Säulen zu beiden Seiten, wehende und fallende Vorhänge. Am Aufgang der Treppe ein braunhäutiger Mann in weißer Uniform. Er wacht, schaut über die anbrandende Menschenmenge. Einige Dutzend weißgekleidete Pilger drängen die Stiegen empor und verlieren sich im weißen Rauch, in den das Gold der Säulen einen schwachen Bronzeton bringt.

Rückseitig im kleineren Format, kaum größer als eine Ansichtskarte,

  • Ausschnitt aus einem Gemälde mit Ruderbooten und Nachen auf schimmerndem und spiegelndem Gewässer, dicht an der Küste, die sich steil und gebirgig in dunstiger Beleuchtung verliert.
  • Einer der Wasserwege, die durch Kopenhagen gehen. Ein Mann lehnt am Geländer. Eine Frau in heller Kostümjacke zieht auf dem Rad einen Jungen mit Kinderrad neben sich her.

Dann 

  • Foto zweifarbig, nächtlicher Himmel ganz violett, davor schwarz, als Silhouetten abgehoben: Teile von Bäumen, die Umrisse der Blätter erkennbar. In der Mitte ein Berg oder Fels mit heller eingeschnittener Öffnung. Ein Viereck, darin abgehoben eine stehende Figur, den Arm abgestützt aufs Stativ, dessen drei Beine dünn, aber gut erkennbar in alle Richtungen laufen.
  • Düstere Landschaft im Herbst, Bäume, Hügel, Wälder. Ein Gehöft und dahinter, am Feldrand ein heller Fleck, als wäre dort die Farbe abgegangen oder durch Klebung weggerissen. Wenn man mit der Fingerkuppe darüber streicht, an der Glätte, merkt man, es ist ein Teich, in den der Mond weiß hineinscheint.

Zwischen den nächsten Seiten loses Blatt, beidseitig illustriert:

  •  großes Mühlrad hinter einem felsigen Bachbett, ausgedehnte Wiese mit gelb blühenden Ginsterbüschen und weiß blühenden Obstbäumen randwärts. Im Hintergrund verloren weiß getüncht ein paar Häuser.
  • Ansicht der Piazza San Marco in Venedig, völlig menschenleer, da in diesem Augenblick überschwemmt. Keine Menschen, keine Tauben, nur die Architekturen, die den Platz einfassen, in die Tiefe verdoppelt durch das spiegelblank daliegende Wasser. Erst nach längerer Betrachtung entdeckt man eine dunkle Silhouette, einen stehenden Mann in Mantel und Hut. Er hat den Kopf nach vorne geneigt, in die Betrachtung eines senkrechten Schattens vertieft, den die Wasserfläche, auf der er steht, verkürzt und verlängert.
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